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44 Leningrad - Russian-Speed-Folk und Postsowjetpunk aus Potsdam 12.02.11 Singwitz

in Konzertberichte 2019 und älter 02.08.2013 10:23
von Kundi | 3.250 Beiträge | 7335 Punkte

Der Bericht ist auch schon etwas älter, aber 44 Leningrad werden einige von euch noch nicht kennen. Dabei ist die Band live der absolute Bringer.

Meister Röhrig aus den Comics von Brösel wäre am Sonnabend im Kesselhaus Singwitz bestimmt der Schreck gehörig in die Glieder gefahren und er hätte in seiner Not sicher Lehrling und Gesellen mit den Worten „Eckhard, Werner –ich glaub die Russen sind da.“ zur Hilfe gerufen. Dabei waren gar keine echten Russen da, sondern „nur“ die Band 44 Leningrad aus Potsdam. Na gut, es wird sicher auch Leute geben für die Potsdam in Russland liegt, aber der Normalfall ist das nicht *grins*. Aber darüber möchte ich an dieser Stelle nicht weiter philosophieren, sondern lieber einen meiner berüchtigten Konzertberichte schreiben ;-).
Als ich im Kesselhaus Singwitz ankam, gönnte ich mir erstmal einen Kaffee und machte es mir auf einer Couch bequem. Nachdem ich das heiße Getränk genossen hatte, machte sich wohlige Wärme in mir breit. Ich beobachtete die Leute um mich herum. Freunde und Bekannte waren heute jedoch hier eher nicht zu erwarten. Ganz unmerklich wurde ich müde und ich begann allmählich vor mich hinzudösen.

Das hätte ich mal lieber nicht tun sollen, denn plötzlich setzte mit ohrenbetäubender Lautstärke die sowjetische Nationalhymne von der Konserve ein. Ich war darüber so erschrocken, dass ich sofort wieder hellwach war. Aber ich wusste auch, dass ich jetzt noch ein paar Minuten Zeit hatte, denn außer dem vielen Bühnennebel( den meine Digicam und ich immer noch hassen) und dem blauen Licht passierte auf der Bühne noch nicht viel. Die Musiker nahmen nur Aufstellung und warteten dann auch noch die Hymne „Der heilige Krieg“(„Священная война“) ab. Für mich zählen diese beiden weltweit bekannten Melodien zu den großartigsten Werken sowjetischer bzw. russischer Prägung, weil sie so erhaben-feierlich, schwermütig, melancholisch und kraftvoll zugleich klingen. Dass 44 Leningrad sie als Intro benutzten, fand ich originell. Ich als gelernter DDR-Bürger war in diesen Minuten trotzdem irgendwie zwiegespalten, einerseits grinste ich vor mich hin, weil die augenzwinkernde Show der Potsdamer mich begeisterte, andererseits bekamen meine Gedanken wieder Flügel und entfleuchten zurück in die Vergangenheit in der manche übereifrigen Leute uns solche Lieder manchmal aufzwingen wollten. Aber als Jugendliche waren wir wohl hoffnungslose Fälle. Wir wollten lieber Slade, Suzi Quatro, Karussell oder die Honky Tonky Band hören. Heute mag ich aber diese vertonten Monumentalwerke irgendwie.

Mit dem „Geburtstagslied“ („Пусть бегут неуклюже“) einem in Russland sehr populären Kinderlied legte die Band dann endlich los. Manche kennen das Lied vielleicht auch unter dem Titel „Lied des Krokodils Gena“, denn es stammt aus einer Trickfilmserie. Eine deutsche Version des „Geburtstagsliedes“ hat übrigens der Liedermacher Gerhard Schöne auf dem Album „Kinderlieder aus aller Welt“ veröffentlicht. 44 Leningrad verliehen dem Ausgangswerk natürlich gehörig mehr Schmiss und Tempo. Das ist ja das Faszinierende an dieser Band, dass sie gerne in fremden Gewässern wildert und aus traditionellen Volksmelodien und/oder bekannten Liedern der Popgeschichte etwas völlig Neuartiges zaubert. Einige dieser wirklich originellen Stücke durften die Besucher des Kesselhauses am vergangenen Sonnabend hören. Da wurde aus „Das Model“ von der Electro-Band Kraftwerk plötzlich ein russisch anmutendes Instrumentalstück mit viel Pfeffer und das ohne irgendwelche Keyboardklänge. Daran schloss sich mit „Vorn dort“ gleich ein Lied mit deutschsprachigem Gesang an. Ich kannte das Teil irgendwoher und ich hatte eine leise Erinnerung, wie das Original geklungen hat. Aber ich kam erst sehr viel später mit Hilfe des allwissenden Internets darauf, dass der Titel „Von dort kam sie her“(Text: Gisela Steineckert, M.: Arndt Bause) in den siebziger Jahren vom Chanson- und Schlagersänger Jürgen Walter gesungen wurde und auf dessen ersten Amiga-LP zu finden war. Eigentlich könnte man über nahezu jedes gespielte Lied ein paar erklärende Worte schreiben, aber das hilft nicht wirklich weiter. Diese Band muss man live erleben und ich garantiere euch, das wird zum Erlebnis.

Der Musikstil von 44 Leningrad ist schwer zu beschreiben. Herkömmliche Schubladen würden nur teilweise oder gar nicht passen. Die Band selbst nennt das Ganze Russian Speed Folk. Ich habe da eine andere Erklärung: Man nehme einen Mixer und in diesen gibt man einen gehörigen Schluck Folklore aus den weiten Russlands, etwas Rock, Punk und Ska, einen deftigen Schuss Metal und vielleicht auch noch eine winzige Prise Schlager. Dazu kommen noch eine Handvoll Phantasie und ein bis zwei Löffelchen Humor. Weitere Zutaten sind möglich. Ganz wichtig ist, dass man dann den Mixer auch eine ganze Weile auf höchster Stufe arbeiten lässt und den fertigen Musik-Cocktail selbstverständlich ungefiltert serviert.
Was dann herauskommt, ist reine Zappel- bzw. Tanzmusik. Es ist eigentlich unmöglich bei 44 Leningrad cool und total bewegungslos vor der Bühne zu stehen. Die Band reitet beim Konzert eine Attacke nach der anderen auf die Tanzmuskeln. Nun gehöre ich ja der Fraktion der leidenschaftlichen Nichttänzer an, aber ich habe mich mehrmals dabei ertappt, wie ich doch kräftig mitgewippt habe, vom Mitsingen einiger Lieder ganz zu schweigen.
Nach einer kurzen Anlaufphase tanzten tatsächlich nicht wenige Leute vor der Bühne.

Die Band gab aber auch wirklich Gas. Neben den für Rockmusik typischen Instrumenten Gitarre, Bass, Schlagzeug und dem Gesang sorgte besonders Ulrike „Ullli“ Eisenreich mit ihrem Akkordeon für die typischen Folkloretupfer. Frontmann Thilo „ Theo“ Finke setzte ebensolche Tupfer mit Mandoline und Balalaika. Basser Romuald Leonhardt spielte zeitweise auch Klarinette. Das von Silvio Hoppe äußerst druckvoll gespielte Schlagzeug und die wilde E-Gitarre von Yeti machten den Sound mehr als komplett. Dazu herrschte bei der Band auf der Bühne auch Feierstimmung. Da wurde gerockt was das Zeug hielt, gab es bei „Troika“ wilde Tanzeinlagen und nebenbei gab es noch den einen oder anderen witzigen Kommentar. Diese ausgelassene Partystimmung war wirklich eine Wohltat. Auch in den Liedern steckte so manche Überraschung. Bei einem Lied nahmen sie Anleihen bei „Ghostriders in the Sky“, was ich gar nicht so unpassend fand, denn als Jugendliche sangen wir auf diese Melodie gerne „Es war in einer Sommernacht am Rande des Urals“. Das Volkslied „Heimat“ endete als Ramones-Klassiker „Sheilla is a Punkrocker“. Beim Arbeiterkampflied „Warschawjanka“ blitzte plötzlich Chatschaturjans „Säbeltanz“ durch. Um beim Beispiel mit dem Mixer von vorhin zu bleiben, es war als hätte dieser an mancher Stelle die Zutaten nicht richtig durchgerührt und deshalb konnten sich die Zuhörer an solchen Einlagen erfreuen. Beim italienischen Partisanenlied „Bella Ciao“ intonierten diese Havelkosaken im Mittelteil die Trauerhymne „Unsterbliche Opfer“. Als 44 Leningrad auch noch das „Lied von der unruhevollen Jugend“ (Песня О Тревожной Молодости) nachlegten, stand ganz sicher wieder ein breites Grinsen in meinem Gesicht. So ein klein wenig (N-)Ostalgie im Sinne von Erinnerung an ein unbeschwertes Heranwachsen ist ja aus meiner Sicht auch nichts Verwerfliches;-). Die allerletzte Zugabe war dann die Abendgrußmelodie vom Sandmännchen. Was bleibt abschließend zu sagen? Schön war’s mal wieder mit 44 Leningrad und das auch noch fast vor der eigenen Haustür im Kesselhaus Singwitz. Perfekter kann ein solcher Abend kaum sein.


Gruß Kundi

Angefügte Bilder:
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zuletzt bearbeitet 02.08.2013 10:36 | nach oben springen


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