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SARAH LESCH (zum Zweiten) - live in Halberstadt

in Konzertberichte 2019 und älter 30.08.2017 14:00
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Sarah Lesch im Papermoon Halberstadt (27.08.2017)

Es kommt nicht mehr sehr oft vor, dass ich mir eine Band oder einen Künstler zwei Mal in einem Jahr mit einem Konzert genehmige. Das habe ich bei CÄSAR gern getan, bei Jürgen Kerth kommt das auch vor, aber die Konzerte von Bayon sind leider sehr selten geworden. Es gibt nicht mehr viele, die einem wohliges Erschaudern oder Kribbeln durch den Körper jagen, deren Musik Lust auf noch einmal in mir erzeugen kann. In Magdeburg erlebte ich diese SARA LESCH und plötzlich steht die junge Generation vor mir, so wie ich mich selbst einmal gefühlt hatte: Unkompliziert, frech, intelligent, romantisch und ein wenig wütend. Ach ja und modisch auch! Das fühlte sich fast wie ein Beben an, das mir durch alle Knochen und meinen Verstand jagte. Der Abend gab mir Hoffnung, in heimischen Gefilden, so wie in internationalen auch, könne man doch noch Entdeckungen machen oder Überraschungen erleben.

Heute nun bin ich zum zweiten Mal binnen eines Vierteljahres bei der singenden Dichterin Sarah Lesch und ich bin neugierig. Vielleicht ein wenig anders, als beim ersten Mal. Diesmal führe ich Erwartungen mit und ich hoffe, sie an einem Sonntagnachmittag erfüllt zu bekommen. Auf welche Weise, weiß ich noch nicht. Sollte es ihr gelingen, möchte ich gern ein signiertes Vinyl-Album als Erinnerung mit nach Hause nehmen. Die Lieder für ihre erste Scheibe, so sagt sie, wären zu Hause in ihrer „schmutzigen Küche“ entstanden, in einem intimen Umfeld sozusagen. Seither hat sich ihr Blick geweitet und diese Welt „Da draussen“, wie das brandneue Album heißt, auch. Draußen erhaschen die Augen schnell die weniger attraktiven Seiten, den Schmutz und die Vergessenen am Rande, statt die Freuden. Man kann erkennen, wie verrückt und zerbrechlich alles sein kann, worin wir leben. Mit dieser Perspektive sind wohl auch die neuen Lieder entstanden, die ich zum Teil schon in Magdeburg hören konnte und deren Ausdruck mich so sehr berührt hatte.

Das Papermoon ist fast so etwas wie meine „Stammkneipe“ geworden. Klein, schnuckelig und oft auch mit guter Musik im Angebot, die zum kühlen Bierchen passt. Heute sind Stuhlreihen gestellt und, weil das Wetter ausnahmsweise einen auf sommerlich macht, sind die Türen zum Biergarten weit geöffnet. Die Hütte ist gut gefüllt, als die kleine zierliche Dame, diesmal in hautengen Hosen, statt im Kleid, auf einem Hocker Platz nimmt. Man könnte meinen, eine moderne Fee, mit einem Rasta-Geflecht auf dem Kopf und Piercing im Mundwinkel, einschweben zu sehen. Sie nimmt einen Barhocker in Beschlag und dann sitzt sie dort einer Königin gleich. Ihr zur Seite, BENNI BENSON, ein langjähriger Freund und ein exzellenter Gitarrist, wie sich bald zeigen wird. Zum ersten Mal sehe ich in ihr Gesicht, kann entdecken und darin lesen, was mir im Dunkel der Factory von Magdeburg verwehrt blieb. Und dann plaudert sie einfach drauflos, scheint aufgeregt und knipst die bereits eingeschaltete Gitarre wieder aus. Ups!

Allgemeines Gelächter, der nicht vorhandene Knoten löst sich beim Plaudern übers (Aus)Reisen und schon singt sie „Reise reise Räuberleiter“, ein Song voller Gedankenfetzen, die einem in der schönen Uckermark in den Sinn kommen können. Dort ist ihr auch der „Lieblingsbeatle“, im übertragenen Sinn, über den Weg gelaufen und weil ich mich auf ihre Frage hin gemeldet habe - meiner war George, der stille Gitarrist. Sie wirft diese Lieder wie Schmetterlinge in die Luft, leicht und verspielt, entlässt sie in die Freiheit und zu uns, die wir sie einfangen können. Ich habe immer gedacht, jemand, der Märchen oder Geschichten erzählt, ist entweder ’ne Märchentante oder eine Oma (oder Politiker). Sarah Lesch ist keines von beiden (Politiker scheint sie nicht besonders zu mögen), doch wenn sie über Episoden spricht, aus denen Lieder wurden, könnte ich ihr stundenlang zuhören. So wie beim Gedicht „Aus der Badeanstalt“, sagte jemand nach dem Konzert. Mir geht es ähnlich. Dann thront sie auf ihrem Hocker, lächelt verschmitzt, die schmalen Beinchen irgendwie verknotet und fällt trotzdem nicht runter. Doch plötzlich haut sie einem mit sanfter Gewalt den „Matrosen“, der den anderen irgendwo zurück lässt, um die Ohren mit einer Zeile wie „Krieg und Liebe finden zeitgleich statt, an den anderen Enden der Welten“. Das hätte der junge Dylan in den 1960ern auch nicht besser formulieren können, denke ich mir. Der konnte (und kann) den flüchtigen Moment auch in drei Worte Ewigkeit pressen. Da hat sie mich, den „alten 1968er Hippie“ (O-Ton Sarah), wieder voll erwischt und sie lächelt wieder aus ihren blauen Augen heraus.

In den vergangenen Jahren sah ich ein paar junge amerikanische Liedermacher auf kleinen Bühnen in Dresden. Unter ihnen Murder, Turner Cody, Tina Vipers und auch John Houx. Sie alle haben mich mit einem besonderen Blickwinkel auf ihre Umwelt fasziniert und als SARAH LESCH von Phoebe Kreutz „The Day The Basement Flooded“ auf ihre Weise als „Der Tag, an dem die Flut kam“ neu interpretiert, entdecke ich das noch einmal: Auf besondere Weise liebevoll, anklagend aber auch aufmunternd. In genau diesem Stil, so finde ich zumindest, leben und klingen die Lieder vom „Kapitän“ und jenes für ihren Sohn, „Testament“. Wer nicht will, bekommt den Spiegel vorgehalten, ohne Schmerz, aber auch ohne Verständnis für Dummheit und Ignoranz. Ungemein beeindruckend sowie aufrichtig ehrlich im Konzert.

Richtig berührt und wirklich beeindruckt hat mich an diesem Nachmittag ihr Gitarrist aus Augsburg. BENNI BENSON spielt eine zauberhaft intensiv klingende Gitarre und schlittert dabei durch alle Stile, von Folk über Swing bis Ska, als gäbe es nichts Leichteres. Stets so, dass die Stimmung des jeweiligen Liedes dezent unterstrichen wird, unauffällig und gefühlvoll. Ein einziges Mal jedoch darf er mehr, darf er zeigen, was in ihm steckt und dann haut es mich um! Sie beide, so Sarah, hätten eines gemeinsam. Beide haben sie ihre Oma verloren und sich von ihr auf dem Totenbett verabschiedet. Doch während Sarah das Erlebte nicht formulieren kann, schreibt ihr Gitarrist Benni sich später seine Gefühle aus der Seele. Als er „Ich war noch nie hier“ aus den Saiten lockt, er zu singen beginnt, komme ich aus dem Staunen nicht raus und meine Emotionen toben wie wild, so sehr umschließt mich diese düster-schöne Stimmung und ich erinnere mich, wie ich mich von meinem Vater verabschiedet habe. Ich hätte noch einmal heulen können, doch ich verharre ergriffen bei dieser zauberhaften Hymne, die ganz nebenbei keinen Vergleich mit Roy Harper’s „Once“ scheuen muss. Einfach berührend und großartig!

Von mir aus hätte danach Schluss sein können, zu viel ist in mir angestaut. Doch ein bestimmtes muss dann doch noch sein. Diesmal sitze ich und kann „Das mit dem Mond“, der überall zu sehen ist, wo es all das – „die Mauern, die Lügen, die Lieder“ – auch gibt, in aller Ruhe genießen. So schnell kann man gar nicht hinterher denken, wie SARAH LESCH all die Satzfetzen wie ein Puzzle aneinander reiht. Zum Schluss wünscht sich jemand noch die „Ballade vom Frei Johnny“, auch aus ihrem neuen Album, dann verbeugen sich beide und wir klatschen dazu. Das macht man so und in diesem Fall werden noch drei weitere Lieder daraus. Es hat sich gelohnt und „Das letzte Lied“ spielt sie allein zum Klang der Ukulele.
Noch eine Weile bleibe ich sitzen, sehe den Leuten zu, wie sie die „Lokäschn“ verlassen. Hinaus in die Normalität dieses Lebens oder was jeder dafür hält.

Ich sitze noch und in meinen Erinnerungen spiegeln sich die 1980er Jahre mit Leuten wie Drogla, Eger oder auch Andert in unserem Klub in Elsterwerda, EE. Nur, dass wir damals nach dem Konzert mit den Künstlern noch diskutieren wollten und konnten, bis tief in die Nacht hinein. Heute fliehen die meisten schnell wieder in die Nacht und die anderen zu ihren Flachbildschirmen. Nur ganz wenige unterhalten sich danach über das Erlebte und Gehörte, noch weniger schreiben davon. Die kommen sich oft vor, wie ein moderner Don Quichote, mit dem sich niemand mehr austauschen oder gar auseinandersetzen möchte. Sogar in der Anonymität des Netzes hat man sich längst (bei Facebook) bequem eingerichtet, folgt man vorgegebenen Abläufen, setzt seinen Haken oder ein Smilie, zählt die Klicks. Was die Musik, die Lieder oder die Künstler vielleicht bewirken wollten, ist längst nicht mehr Thema. Man trägt Musik, oder das Treffen mit dem Künstler, wie ein Alibi mit sich herum oder vor sich her und redet sich gern ein, in einer Gemeinschaft zu agieren, obwohl man die gerade eben verlassen hat. Der Künstler fährt unterdessen nach Hause. Bis zum nächsten Konzert – reise, reise, Räuberleiter.

Angefügte Bilder:
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zuletzt bearbeitet 30.08.2017 14:03 | nach oben springen

#2

RE: SARAH LESCH (zum Zweiten) - live in Halberstadt

in Konzertberichte 2019 und älter 31.08.2017 12:46
von Kundi | 3.250 Beiträge | 7335 Punkte

Wie Du in Deinem Bericht persönliche Empfindungen verarbeitest und benennst, ist der Hammer.
Emotionen pur, die man so sicher in keinem Bericht eines besoldeten Schreibers lesen kann.

Danke für diese Einblicke, lieber Hartmut.

Gruß Kundi


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#3

RE: SARAH LESCH (zum Zweiten) - live in Halberstadt

in Konzertberichte 2019 und älter 26.10.2017 19:31
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Nachtrag: Eine junge Künstlerin, eine Lieder-Sängerin, die mit eigenen Werken aufrütteln, anecken und vielleicht auch zum Nachdenken und Kommunizieren anregen will, nach dem Konzert aber NICHT bereit ist, auf ihre Fans zuzugehen und das Gespräch über die Lieder und Inhalte zu suchen, sich den Fragen und Meinungen zu stellen, ist in meinen Augen unglaubwürdig. Ich habe das zwei Mal erleben, um ein Autogramm und Gespräch betteln müssen. Letzteres ist mir verwehrt geblieben. Ein drittes Mal wird es deshalb mit mir NICHT geben! Bei mir hat die Enttäuschung das Erlebnis Musik & Konzert verdrängt und irgendwie habe ich das Gefühl, das Cover ihrer aktuellen Scheibe „Da Draussen“ drückt unbewusst exakt das aus, was ich zwei Mal erlebt habe: Unnahbarkeit.


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