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ROßTRAPPE als GESCHENK - (mal kein Konzertbericht)
in Off-Topic 27.10.2015 19:39von HH aus EE • | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte
Roßtrappe als Geschenk (26.10.2015)
Da oben war ich schon einmal als Kind. Es könnte in meinem zehnten Lebensjahr gewesen sein. Ganz so genau weiß ich das nicht mehr. Nur, dass ich schon einmal dort oben war, ist in meiner Erinnerung haften geblieben. Viele Jahre später dann, Mitte Februar dieses Jahres, hatte der Weg zur Roßtrappe, weil kein Schnee mehr lag und die Sonne schien, einen eigenartig düster-schönen Reiz. Davon hatten wir als Neu-Harzer vorher keine Ahnung, waren aber begeistert, zumal man an solchen Wochentagen, an denen die Natur noch schamhaft kahle Flecken zu verbergen sucht, kaum jemandem begegnet. Man kann diese erhabene Schönheit des Wanderns bis ganz nach vorn in aller Ruhe genießen, muss sich nicht von dem Menschstrom mitreißen lassen oder ihm aus dem Wege gehen. Damals, vor sieben Monaten, hatten wir uns vorgenommen, diesen Pfad am Abgrund entlang, im Herbst noch einmal zu wandern. Die Vorstellung, die Natur hier in bunt, statt nackt zu erleben, war einfach zu verlockend, als dass man so eine Idee wieder vergessen könnte.
Es ist dennoch schwierig, den geeigneten Zeitpunkt zu finden. Beruf, Pflichten und Wetter schaffen es oft, den Absprung aus dem Alltag zu verpassen. Inzwischen fallen die Blätter von den Bäumen, bilden am Boden einen bunten Teppich und die ersten Bäume recken schon ihre kahlen Arme in den Himmel. Die Parole hätte heißen können: Jetzt oder erst in einem Jahr. Noch ein weiteres Jahr wollten wir nicht warten.
An diesem Tag liegt Hochnebel in der Luft, aber die Sonne versucht hartnäckig, den Schleier zu lüften. Der Verzicht auf einen Nachmittagskaffee fällt uns leicht und schon rollt die „Schüttel“, vorbei an den kahlen Feldern, über die vierspurige Bundesstraße drüber hinweg, nach Westerhausen in Richtung Thale. Vor uns die Bergkette des Harz, aus der sich die Schlucht des Bodetals herausschält. Hoch oben hängt ein dichter Wolkenschleier, der gegen die Nachmittagssonne drückt. Statt bis zum Lift zu fahren und gemächlich, die Natur betrachtend, dort hinauf zu gleiten, entschließen wir uns, auf den Parkplatz der Roßtrappe, mit der „Schüttel“ und Vollgas, hinauf zu stürmen – Speed-Eroberung quasi.
Das alte holprige Straßenband windet sich, gleich hinter dem Ortausgang von Thale und einer Kurve, in die Berge hinein. Durch enge Serpentinen geht es ziemlich steil nach oben. Im dritten Gang rattert die „Schüttel“ an einer gelb-roten Blätterwand entlang, die nach oben hin immer schmaler zu werden scheint. Dann die nächste Kurve, noch eine und wieder habe ich ein schmales Straßenband vor dem Kühler. Dann endlich der Hinweis auf das Berghotel „Rosstrappe“. Der zehn Jahre alte Motor kann nun auf dem Parkplatz verschnaufen. Vier Menschen- und vier Hundebeine machen sich daran, ein zweites Mal den Stolperweg bis zum Felsabbruch unter ihre Füße und Pfoten zu nehmen.
Diesmal tauchen die Augen in eine bunte Blätterwelt ein, die sich links nach unten und rechts in die Höhe, auftut. Ein sattes Gelb löst langsam das matte Grün ab. Zwischen hellem Braun und tieferoten Tupfern recken sich fast schwarz wirkende dünne Baumstämme gen Himmel. Wieder einmal staune ich, wie vielfältig die Farbenpracht in der herbstlichen Natur im Sonnenlicht erstrahlt und manchmal auch schon den Blick über das Tal auf den gegenüber liegenden Hexentanzplatz frei gibt. Links von mir bricht der Berg steil nach unten ab. So steil, dass einige Bäume irgendwann ihr eigenes Gewicht wohl nicht halten konnten und nun zum Verrotten am steilen Hang liegen oder auf halber Höhe in den Ästen der gesunden Bäume stecken geblieben sind. Dies hier ist geschützte unberührte Natur und es sieht einfach nur majestätisch schön aus.
Zehn Minuten später sind wir auf dem Felsgrat. Links und rechts geht es steil abwärts. Ein traumhaft wunderschöner Blick auf das Tal der Bode, die sich unten durch die enge Schlucht schlängelt, zeigt die üppige Pracht, von der die Natur an diesem Ort verschwenderisch viel verteilt hat. Da stehe ich vorn am Geländer und sauge mit beiden Augen, und dem Objektiv der Kamera, den göttlichen Anblick auf, der sich vor mir auftut. Ich bin, wieder einmal, überwältigt und stelle mir vor, wie ein Adler fliegen zu können. Jetzt meine Schwingen ausbreiten und lautlos gleitend, von ganz oben das bunte Blätterdach, aus dem unten die Bode herausblitzt, betrachten zu können. Was für eine faszinierende Vorstellung! Ich wohne jetzt seit einem Jahr hier „um die Ecke“, aber diesen Naturreichtum wie selbstverständlich als „meine“ Heimat zu betrachten, das fällt mir immer noch schwer. Für mich ist es etwas Besonderes und ein Geschenk, hier stehen zu dürfen, wann immer mir danach sein sollte.
Wer bis vor zum Ausguck möchte, muss jetzt über Stein, Felsvorsprünge und Stufen steigen. Der Weg schlängelt sich zwischen Granitvorsprüngen, Felshügeln und Bäumen auf einem Grat von nur einigen Metern Breite weiter. Halt kann man am Geländer finden, das den Weg säumt oder vor einem Schritt zu viel schützt. Auch der legendäre Abdruck im Fels, der einem übergroßen Abdruck eines Pferdehufes ähnlich sieht, ist mit einem Geländer gesichert. Vor sieben Monaten hatte unsere Lily durstig daraus getrunken, heute ginge das nicht und die kleine Hundedame ist außerdem viel zu aufgeregt. Warum, das weiß sie nur selbst. Sie läuft unruhig hin und her, schnüffelt überall herum und möchte am liebsten wieder von hier weg.
Inzwischen kommt vom Hexentanzplatz gegenüber grauer Nebeldunst auf und überzieht langsam die Berghänge mit einem Schleier. Allmählich verschwindet die Gaststätte vom Hexentanzplatz im Dunst, während die Bäume und Felsen am Hang darunter noch zu erkennen sind. Die Gondeln der Seilbahn tauchen in die Wolken ein und werden unsichtbar. Bei solchen Szenarien sind wahrscheinlich einst die vielen Mythen und Sagen entstanden, die wir alle aus dem Harz kennen. In wenigen Tagen schon ist wieder Halloween und vielleicht üben die Hexen im abendlichen Dunst des heutigen Tages schon ihre wilden Tänze oder reiten im Schutz der Unsichtbarkeit auf ihren Besen umher. Mit ein wenig Fantasie kann man sich das gut vorstellen.
Wir stehen mit einigen anderen auf der Spitze vom Granitfels, der gut vierhundert Meter in die Höhe ragt. In den letzten Strahlen der Nachmittagssonne glänzt die Natur überall in allen Farbnuancen, die der Herbst zu bieten hat. Das Licht bricht sich an den Felskanten und lässt wildromantische Konturen entstehen, die so manchen Maler inspiriert haben mögen, sie mit Pinsel oder Stift festzuhalten. Eine Kopfbewegung genügt, um ein völlig neues Motiv zu entdecken, das sich als Strauch oder Bäumchen an den steilen Hang drückt und meine Neugier weckt. Es ist ein stilles Staunen, das mich überkommt und der Wunsch, die Natur möge gnädig sein mit uns Erdlingen und wir mögen endlich begreifen, dies alles ist uns nur für ein kurzes Menschenleben geliehen. Es liegt an uns, diese Gaben an unsere Kinder und Enkel in voller Pracht und Schönheit zu übergeben. Anderenfalls wird uns nicht Gott, sondern die Gier nach Wachstum und Macht mit unserem eigenen Unvermögen zu leben bestrafen. Den Granitfels, auf dem ich gerade stehe, wird das nicht erschüttern. Unser System aber wohl!
Die uns auf dem Rückweg entgegen Kommenden, werden vom Aussichtsfelsen wohl nur noch Sicht in das Tal haben. Zu schnell zieht der graue Schleier hinter uns die Vorhange des Tanzplatzes gegenüber zu. Für heute ist Ende der Vorstellung und die Natur ringsum beginnt schon, für heute die Farben in ein Grau zu verwandeln, das sich, von oben kommend, nun sacht über die weichen Hügelketten legen wird. Im Rückspiegel sieht es später so aus, als zöge sich jemand eine dicke Bettdecke über den Kopf, um endlich einschlafen zu können. Dieses Bild wird auch mich in den Schlaf begleiten, um im Traum, mitsamt allen Hexen über dem Tal, wieder lebendig zu werden. Morgens hoffe ich meist, dafür noch die rechten Worte zu finden, die beim Kaffee entstehen sollen. Vielleicht lesen ja auch meine eigenen Enkel eines Tages diese Zeilen und verstehen, was ich ihnen, aus der Vergangenheit für ihre Zukunft, sagen möchte.
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