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Aus dem Leben des Taugenichts Kundi und Konzertbericht vom 07.10.2011

in Konzertberichte 2019 und älter 10.07.2013 20:59
von Kundi | 3.250 Beiträge | 7335 Punkte

Der nachfolgende Beitrag ist auch schon etwas älter, aber ich finde ihn für mein stilles Kämmerlein oder zum Wegwerfen viel zu schade.

Meine persönlichen Erinnerungen oder so begann Kundi's Muggenpilgerei:

Ich habe es schon an diesem 07. Oktober des Jahres 2011 geahnt, dass ich es mir mit diesem Konzertbericht nicht leicht machen würde. Es kam einfach an diesem Wochenende zu viel zusammen, was mich beschäftigt hat. Da war zum Beispiel das historische Datum. Bis 1989 war der 07.Oktober der Staatsfeiertag der DDR. Ich bin ja in diesem Staat geboren und habe mehr als die Hälfte meines Lebens als DDR-Bürger verbracht. Für seinen Geburtsort kann ja niemand was. Außerdem hatte ich zufällig am 08.10.2011 Klassentreffen Vor 30 Jahren hatten wir nämlich die Polytechnische Oberschule abgeschlossen. Seitdem treffen wir uns aller 5 Jahre, um in Erinnerungen zu schwelgen und Neuigkeiten auszutauschen. Als ich die Schule verließ, war ich schon ca. 3 Jahre eifriger Konzertgänger und hier schließt sich der Kreis zu meinem aktuellen Konzertbericht. Meine folgenden, einleitenden Gedanken werden sich auch hauptsächlich um meine persönlichen Eindrücke bzw. Erinnerungen als Wandersmann in Sachen Rockmusik drehen. Man könnte sie auch mit „Aus dem Leben eines Taugenichts“ betiteln ;-). Ich hatte jedenfalls damals niemals im Traum daran gedacht, dass ich im Jahr 2011 immer noch on Tour sein würde und das zum Teil sogar noch bei denselben Bands.

Wie war das nun damals? Was war so spannend und so anders in meiner Jugend? Warum bin ich überhaupt Fan von Musik und Konzerten geworden? Eigentlich ist vieles heute noch genauso wie damals. Die Szenekreise in denen ich mich Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre bewegte, waren nie in sich abgeschlossen und auch keine homogene Masse. Da gab es natürlich einige Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede.
Nicht jeder Jugendliche, der längere Haare, Jesuslatschen, Fleischerhemd und Jeans trug, war gleich ein entschiedener Widerständler gegen das herrschende Gesellschaftssystem. Es ging mir eigentlich gar nicht um Politik, wenn ich über Land zog. Heute wissen wir aber, dass sich der Staat mit seinen Machtorganen sehr für die Jugendszene interessierte und erhebliches, ja sogar staatsgefährdendes Handeln in diesem unorganisierten Freizeitbereich sah.

Aus der Sicht von heute würde ich behaupten, dass der Staat damals durch seine völlig überzogenen Maßnahmen viele der „Ost-Hippies“ erst zu Feinden gemacht hat. Damals wussten wir davon jedoch gar nichts, denn in der Zeitung stand so was kaum. Ich jedenfalls war absolut kein Staatsfeind. Es würde sich heute sicher gut in meiner Biographie machen, wenn ich schreiben würde, dass ich damals furchtbar gelitten hätte und in totaler Opposition zu den damals herrschenden politischen Verhältnissen gestanden hätte. Aber so war es bei mir nicht. Ich habe mich im Großen und Ganzen eigentlich gut aufgehoben gefühlt und ich war auch gesellschaftlich in einigen Organisationen bzw. Verbänden aktiv. Dass ich damals auch ein kleines Großmaul mit spitzer Zunge war, lag wohl auch in meiner Jugend begründet. Richtig geschadet hat das mir aber auch nicht. Klar gab es mal Aussprachen, Tadel und Verweise um mich zu disziplinieren, aber das waren sicher ganz kleine Fische. Meine Freunde und ich haben in der Freizeit auch jede Menge Blödsinn verzapft, sind aber oft auch nicht erwischt worden. Dass es Polizei und MemfiS gab, wussten wir natürlich, aber als großartige Bedrohung haben wir die damals nicht empfunden. Vielleicht war ich damals auch einfach nur zu naiv oder die Uhren der staatlichen Organe im Kreis Bautzen gingen in dieser Zeit einfach anders und gemäßigter als im Rest der Republik

Ich kann mich zum Beispiel auch an eine Veranstaltung erinnern, bei der Hansi Biebl, MTS und Bettina Wegner an einem Abend auf der Bühne der „Krone“ gestanden haben. Das Jahr weiß ich nicht mehr, aber die Wegner spielte Lieder, die ich engagiert und mutig fand. Ich empfand sie keinesfalls als negativ-feindlich, wie es später offiziell genannt wurde. Viel ist mir von ihrem Auftritt nicht im Gedächtnis geblieben. Natürlich hat sie auch Beifall bekommen und die Leute hörten ihr zu. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ihre Lieder zu dem Zeitpunkt von den meisten Zuhörern als böswillig und übermäßig systemkritisch wahrgenommen worden. An zwei Lieder kann ich mich ganz genau erinnern, weil die Texte mich damals besonders beeindruckt hatten. Diese Menschen mit den 2 Gesichtern, die sie in „Janusköpfe“ besang, kannten wir doch alle. Natürlich sang sie bei „Ach, wenn ich doch als Mann auf die Welt gekommen wär ’“, zwar auch davon, dass sie lieber doch kein Mann sein wollte, „denn dann müsste ich zur Volksarmee“. Aber auch das fand ich zum Beispiel nicht verwerflich, sondern eher ironisch. Es gab auch keine Tumulte, solange ich an diesem Abend in der Krone war. Später gab es mal zeitweise Gerüchte, dass man Bettina Wegner in Bautzen durch die „zuständigen Organe“ von der Bühne geführt hätte. Daran kann ich mich aber nicht erinnern und auch Jahre später gab es dafür keine Bestätigung.

Die Kleidung, die ich trug, war auch längst nicht mehr auf die reinen Blueser, Tramper oder Kunden beschränkt, denn als solcher würde ich mich auch nicht unbedingt bezeichnen. In meiner Erinnerung waren diese auch alle ein paar Jahre älter als ich und längst auch nicht bei allen Konzerten zu finden. Natürlich hat man als Jugendlicher schnell mitbekommen, dass man alleine schon damit provozieren konnte, dass man rumlief wie ein Kunde. Etwas anders als der Durchschnitt fühlte man sich in solchen Klamotten also schon. Allerdings trug ich diese Sachen auch nicht ständig wie eine Uniform, sondern hauptsächlich nur wenn ich am Wochenende meine Wenn mein alter Herr wieder über diese Gammler-Klamotten schimpfte und auch die Nachbarn scheel guckten, hatte ich mein erstes Ziel schon erreicht. Ich fühlte mich als Rebell, der es den Spießern mal wieder gezeigt hat. Das war bei mir auch nicht politisch motiviert, sondern war eher meine Art Protest gegen die Spießigkeit und Regelungswut der älteren Generation. Ich denke, dass es diese Art des Auflehnens von Jugendlichen zu allen Zeiten gab und gibt.

Am Wochenende wollte ich nur ein paar Stunden aus der Enge von Kleinstadt und Alltag ausbrechen, wollte Spaß haben, feiern und laute Musik hören. Dieses Ausbrechen aus den vorgenormten Spuren von Schule bzw. Lehre und Elternhaus war ein großes Stück gelebter persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung. Es war wie ein Ventil bei dem man den ganzen Dampf aus Regeln und Vorschriften der zurückliegenden Woche ablassen konnte. Diese Funktion haben meine Konzertbesuche übrigens immer noch, denn auch heute ist man im Alltag bestimmten Zwängen und Regeln unterworfen. Der Unterschied zu damals ist höchstens der, dass die Zeiten ganz wilder Ausschweifungen bei mir wohl vorbei sind. Man wird ruhiger mit den Jahren ;-). Doch dieses Glücksgefühl persönlicher Freiheit durchströmt mich oft immer noch, wenn ich am Wochenende unterwegs bin. Ein Unterschied ist aber, dass ich zum Reisen nicht mehr den Daumen in den Wind hebe, sondern meistens mit der eigenen Kalesche reise. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass ich ruhiger geworden bin? Wer (selbst) fährt, sündigt eben nicht an der Theke, wenn er den Führerschein behalten möchte.

Ich war, um es mit heutigen Begriffen mal zu sagen, damals einfach ein (musik-)erlebnisorientierter „Freizeitlandstreicher“. Auf den Dorfsälen rings um Bautzen traf man eigentlich einen Querschnitt der ganzen Jugend. Vom Musterknaben, der sich nur ganz selten mal ins unorganisierte und darum besonders fröhliche Jugendleben stürzte, bis hin zum „verrückten“ und jede staatliche Ordnung ablehnenden Aussteiger war eigentlich alles dabei.
Man brauchte dort nicht viel Geld, um sich einen schönen Abend zu machen. Mit 10 Mark kam man bestens über die Runden, denn der halbe Liter Bier kostete nur 80 Pfennige. Üblich war es damals, dass man immer gleich ein ganzes Tablett Bier für die Kumpels am Tisch bestellte. Wenn 8 oder 10 Leute in so einer Runde saßen, kam jeder mal mit der Bestellung dran. Wenn es finanziell mal eng war, wurden eben nicht die teuren Zigaretten für 3,2o Mark gekauft, sondern die filterlosen Karo oder Salem gelb für 1, 60 Mark. Karo war sowieso die beste Zigarette zum Bier. Dort in der Provinz fühlte sich unsereins nicht so unter Beobachtung, denn Lehrer oder anderer Respektspersonen trieben sich da nicht herum. Es konnte höchstens mal vorkommen, dass man nachts auf dem Heimweg in die Arme der Volkspolizei lief und den Personalausweis vorzeigen musste. Das war aber in meinem Fall fast immer harmlos. Gelegentlich gab es mal mündliche Belehrungen oder Verwarnungen. Ab und zu durfte ich auch mal kleinere Geldbeträge Ordnungsgeld wegen Urinierens in öffentlichen Parkanlagen und anderer Kinkerlitzchen abdrücken. Ich glaube, gängige Praxis waren damals Beträge zwischen 5 und 20 Mark. Das hob mich aber nicht so sehr an. Man hatte jedoch beim nächsten Wiedersehen mit den Kumpels wieder mal was zu erzählen.

Damals sind wir oft aus Purschwitz, Hochkirch, Großpostwitz, Niedergurig oder anderen Orten kilometerweit nach der Disko heimgelaufen, weil keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr fuhren und das Trampen nachts auf einsamen Dorfstraßen auch nicht so recht funktionierte. Marschverpflegung waren entweder frisch gekaufte Weinflaschen oder 2 Halblitergläser Bier Deshalb brauchten die Innentaschen meiner Jacken auch immer große Taschen. Es war aber ratsam erstmal einen Schluck abzutrinken bevor man die Gläser in einem unbeobachteten Moment verstaute um dann vorsichtig aus dem Saal zu gehen. Je nach Trunkenheitsgrad klappte das manchmal mehr und manchmal weniger gut.

Natürlich gab es viele Berührungspunkte und Überschneidungen zu den Bluesern, Trampern und anderen Jugendgruppen. Manchmal waren wir ja bei denselben Konzerten von Engerling, Diestelmann, Biebl und Co. Per Anhalter reiste ich sehr gerne in die Dörfer. Das kostete ja nichts und sehr lange stand man meistens nicht am Straßenrand bis jemand anhielt. Kraft meiner Wassersuppe sprach ich bei solchen Veranstaltungen dem Alkohol kräftig zu.
Das hemmungslose Besaufen war ja damals fast ein Volkssport Mein Aktionsradius war damals allerdings meistens wesentlich kleiner als heute. Eigentlich waren fast alle Jugendtanzveranstaltungen, Feste und Konzerte in der Umgebung für mich interessant. Um Unterschied zu heute begannen diese Veranstaltungen meistens bereits um 18.00 oder 19.00 Uhr und um 24.00 Uhr war meistens schon Schluss. Die heutige Jugend zieht ja heute meistens erst ab 23.00 Uhr los in diese modernen Großdiskos. Egal ab Diskothek oder Jugendtanz mit Band, die 60:40 Regel (60 % der Musik der Veranstaltung sollte aus den sozialistischen Staaten sein) wurde eigentlich nie eingehalten. Die ersten 2 oder 3 Jahre machte ich nur um die Puhdys einen großen Bogen. Irgendwie mochte ich die gar nicht und ich weiß noch, dass es damals sehr vielen Jugendlichen in meinem Umfeld genauso ging. Das hat sich später dann aber geändert. Wenn wir am Wochenende mal nicht unterwegs zu Veranstaltungen waren, hatte das oft seinen Grund in einer privaten Fete. Damals wurde eigentlich fast alles im Freundeskreis gefeiert. Geburtstags-, Zeugnis-, Schul- oder Berufsabschlussfeiern waren da nur die Spitze des Feier-Berges.

Viele Bands die damals spielten, gibt es heute nicht mehr und/oder sind auch in Vergessenheit geraten. An alle kann ich mich gar nicht erinnern, aber einige habe ich nicht vergessen. Da wären natürlich unbedingt unsere lokalen Helden von der Honky Tonky Band aus Bautzen zu nennen. Mit kräftigen Rock und einigen Blues-Songs sorgten sie immer für Stimmung. Damals fuhren ja viele Fans auf Mundharmonika-Klänge ab und der Frontmann Uwe Müller spielte Munti wie der Teufel. Über den Gitarristen Christian „James“ Müller habe ich in meinen Shawue-Berichten ja auch schon einiges geschrieben. Richtig heiß wurde es im Saal aber immer dann, wenn die Band Udo Lindenberg nachspielte. Das war ja von den offiziellen Stellen nicht so gern gesehen und solche „verbotenen“ Früchte schmeckten uns damals besonders gut. Die Band Pusteblume spielte sehr viel Neil Young und stand deswegen auch sehr hoch bei uns im Kurs. Viele Bands der Amateurszene haben ja gecovert. Rapunzel spielte zum Beispiel sehr viel ZZ Top. Block aus Limbach-Oberfrohna? spielte querbeet. Ich erinnere mich, dass die Band Bob Marley im Programm hatte. Nach dessen Tod im Mai 1981 drehten wir bei den Marley-Songs bei einer Mugge in Zwickau? total frei.

Simple Song aus Dresden spielte Folkrock von Bob Dylan, CSN & Y bis hin zum Countryrock. Später spielten sie auch eigene Lieder wie „Der Typ“. Da habe ich heute noch die erste Zeile im Ohr. „Da gibt’s 'nen Typ, den kenn’ wir gut, der trägt ‚nen großen Hut und alte Jeans und alte Schuh“ Im Refrain hieß es dann „Easyrider da war irgendwann seine Welt. Easyrider, doch hat er von sich nie erzählt…“. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie mehrere solche Lieder hatten, die sich mit den damaligen Trampern beschäftigten. Die Band Musikexpress (später kurz MEX) aus Meiningen fällt mir auch noch ein.

Jetzt fragt sich der geneigte Leser oder die geneigte Leserin sicher wieder, was will er uns denn hier wieder für ein Ei ans Knie nageln? Mit dem aktuellen Konzertbericht hat das doch nullkommanix zu tun. Das sehe ich als Besucher des Konzertes und Schreiber dieses Berichtes aber mal wieder gänzlich anders. Das hat nämlich sogar eine ganze Menge miteinander zu tun. Wer sich bis hierher durchgekämpft hat, möchte doch sicher den Zusammenhang zwischen meinen Erinnerungen an die grauen Vorzeiten und der aktuellen Mugge herausfinden, oder nicht?

Konzertbericht Kirsche & Co und Shawue vom 07.11.2011:

„Tante Ju“ war, trotz des sehr guten Rufes den Kirsche & Co. sowie Shawue als Livebands genießen, an diesem Abend leider nur mäßig gefüllt. Lag es wieder am Freitag? Das würde mich schon interessieren, denn vor knapp 3 Monaten war das rund 60 Kilometer entfernte Kesselhaus Singwitz bei Shawue alleine an einem Sonnabend sehr gut besucht. Beide Bands bestehen übrigens schon seit DDR-Zeiten .Sie haben in all den Jahren viele Konzerte gegeben und eigentlich ein treues Stammpublikum zwischen Kap Arkona und Fichtelberg. Auch mehrere Tonträger belegen ihr kreatives und erfolgreiches Wirken.

Kirsche & Co. legten gegen 21.25 Uhr ziemlich sanft mit der Ballade „Ich hab mich in den Schlaf getrunken“ los. Daran schloss sich mit „Wann“ gleich ein ebenfalls ruhiger Rio Reiser-Song an. Der Frontmann und Namensgeber von Kirsche & Co. Andreas „Kirsche“ Kirchner ließ nach der Begrüßung des Publikums erstmal den Saal erhellen und bat die Leute auch näher nach vorn zu kommen. Bis zu diesem Zeitraum hatte die Band auf Grund des grellen Bühnenlichtes statt des Publikums nur eine schwarze Wand gesehen. Nach dem musikalisch eher verhaltenen Start ging bei „In der Nacht“ das erste Mal die Post ab. Nun wagten sich auch endlich die ersten TänzerInnen vor der Bühne. Der Knoten war geplatzt. „Nie wieder“ war die nächste treibende Nummer. Die Musik von Kirsche & Co. kann man wohl als knallharten, schnörkellosen Rock bezeichnen. Frei geradeaus, treten sie ohne Fisimatenten oder Kompromisse den Zuhörern mit voller Wucht förmlich aktivierend in den Arsch. Dieser frische Sound ist nichts für Weicheier oder träge dahinsiechende Couch-Kartoffeln, sondern etwas für mitgehende und mitdenkende Fans, die druckvolle und kräftig-derbe Stromgitarrenmusik mit sinnvollen deutschen Texten mögen.

Die Texte sind voll aus dem Leben und wenden sich mit klaren, bildhaften Worten direkt an den Zuhörer. Da hört man nix von Liebe, Sonne, und schöne Welt-Trallala. Zu einem großen Teil werden die Menschen am Rande der Gesellschaft thematisiert. Die Gestrauchelten, die Ausgegrenzten, die Hilflosen und die mit ihren Problemen Alleingelassenen erhalten durch den Sänger Andreas „Kirsche“ Kirchner endlich eine kräftige Stimme. Er schleudert die Wörter förmlich heraus und manchmal hat man den Eindruck, dass da nicht einer alleine singt, sondern das ganze Heer der zwangsläufig Abseitsstehenden. So viel Wut und Aggression liegt in seiner Stimme. Einprägsame Verse schildern auch die Gefühlswelt der Betroffenen. Wenn Kirsche im „Taschenmesser-Song“ in der Ich-Form davon singt, wie es in der Seele eines aus Profitgründen entlassenen Arbeitnehmers aussieht, dann steckt darin nicht nur eine ganze Menge Einfühlungsvermögen in diese Personen, sondern auch eine gehörige Portion Gesellschaftskritik. Kirsches kratzige, raue Stimme durchdringt dabei selbst noch den härtesten Seelenpanzer. Die Band umhüllte und untermalte die Gesangsstimme dazu mit einem aggressiven, schmutzigen und deftigen Instrumentalgewitter. Da hatte man den Eindruck, dass Klaus Müller von Baczko seine Gitarre mit bloßen Händen zersägt, so messerscharf und schneidend klang sein Spiel auf den 6 Saiten. Bassist Mario Zink boxte einem förmlich mit den Tieftönen in die Magengruppe. Olaf „Otto“ Köhler trommelte so heavy und druckvoll, dass einem wirklich Angst und bange um seine Arbeitsgeräte werden konnte.

Ich weiß, dass mancher Leser den Begriff Ostrock als überholt ansieht. Für mich ist Ostrock aber heute ein Art Qualitätssiegel für Bands, die ihre DDR-Wurzeln nicht verleugnen, die mit ihrer Musik und ihren Texten immer noch ganz besonders Herz und Hirn der Leute zwischen Elbe und Oder-Neiße ansprechen. In diesem Sinne machen Kirsche und seine Mannen Ostrock des neuen Jahrtausends. Hier muss ich aus gesundheitspolitischen Gründen eine Warnung einschieben: Kirsche & Co-Musik macht süchtig. Ich empfehle euch dringend das mal selbst auszuprobieren. Eure Krankenkasse braucht ihr gar nicht erst um Erlaubnis zu fragen, denn die übernimmt die Kosten sowieso ganz sicher nicht. Aber ihr werdet euch bei einer Kirsche & Co. -Mugge einfach zu Hause fühlen.

So, es ist an der Zeit die gedankliche Verbindung zwischen damals und heute herzustellen.
Ich schrieb am Anfang des Berichtes ja davon, dass mich die Vergangenheit an diesem Wochenende besonders einholte (7. Oktober + Klassentreffen). Kirsche & Co. haben ein paar Lieder auf Lager, die das Lebensgefühl von damals sehr treffend beschreiben. Dabei werden keine Legenden aufgebaut, sondern (bei mir) viele Erinnerungen geweckt. Am letzten Freitag rannte die Band damit bei mir offene Türen, sogar ganze Scheunentore ein. Natürlich kannte ich diese Lieder schon. Ich fand sie von jeher schon Klasse, aber diesmal überwältigten sie mich förmlich. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich meine Erinnerungen ohne dieses Erlebnis in der „Tante Ju“ gar nicht geschrieben hätte. Also beschwert euch bei Kirsche & Co, wenn ihr mit meinem Geschreibsel gar nix anfangen könnt ;-). Nun könnte ich hier ja noch sonst was schreiben, was die Songs bedeuten und wie toll ich sie finde. Ich lasse aber lieber mal ein paar Zeilen der Texte sprechen. Ich weise aber darauf hin, dass sicher nicht jedes Wort haargenau stimmen wird und die Texte auch nicht vollständig sind, weil es nur mitgehört ist.

So heißt es im Titel „Zonenzeit“:
„Du redest von Vergangenheit von der guten alten Zeit.
Wie das damals alles war, ohne Bauch mit vollem Haar.
Wenig Geld, am Abend voll. Friede, Freunde alles toll.
Hol den Joker noch mal raus aus deinem Kartenhaus“

Schenk die Gläser noch mal voll.
Lass doch mal fünfe gerade sein. Ich hab zwei Fotos in der Hand per Anhalter durchs Zonenland…..“

Für mich klingt dieses Lied, wie ein Zwiegespräch zwischen 2 alten Trampern von denen der eine nur noch in Erinnerungen schwelgt und der andere immer noch aktiv ist, seinen Kumpel aufrütteln will wieder mal auszubrechen aus seiner selbst gebastelten kleinen Alltagswelt, die eines Tages auch zusammenfallen kann( Sinnbild Kartenhaus).

Der Refrain von „jung und frei“ kam für mich mit seinen Variationen zwar etwas polemisch daher, aber er war keinesfalls gelogen. Es war damals so. Auch wenn ich zum Beispiel die Stasi nicht bewusst bemerkt habe: „Wir waren jung und vogelfrei und Neil Young war immer dabei. Wir waren jung und vogelfrei und die Puhdys war’n niemals dabei“. „Wir war`n jung und vogelfrei und die Stasi war immer dabei“.

Die absolute Hymne und Verbeugung der Band vor den immer noch aktiven Musikfans ist für mich das Lied „Crazy People“. Ich zähle mich frech auch mal zu diesen Leuten:

„Unterwegs im Osten seit vielen Jahren
sind sie bei Wind und Wetter dem Rock’n Roll hinterhergefahren.
Kein Tabu kann sie stoppen und keine Polizei
Die Sonne im Herzen wild und vogelfrei.
Ungebeugte Seelen mit Freiheitsdrang
Auf der Suche nach Leben ohne Zwang.
Ihr Plan ist die Liebe, der Weg das Ziel.
Jeder Tag ist ein Witz, das Leben ein Spiel.

Crazy People Crazy People

Am Wochenende man kennt sich seit Jahren
Kommen sie zusammen zum Happening gefahren.
Sie reden und trinken, was zählt ist der Moment.
Sie tanzen und tanzen bis der Rhythmus brennt

Crazy People Crazy People

Sie lieben Kapellen bei denen die Sonne aufgeht
Und Kirsche & Co, sowieso.
Dieser Song ist für euch meine Freunde mein Leben
Dieser Song ist für euch meine Freunde mein Leben.

Crazy People Crazy People.“

Natürlich haben Kirsche & Co. noch viele andere Songs gespielt, die es wert wären hier
ausführlicher gewürdigt zu werden. Erwähnen möchte ich wenigstens noch „Der Turm stürzt ein“ von Rio, „Heimatlos“, „Wut im Bauch“ und „Immer noch verrückt“.

Eine Zugabe gab es noch und nach einer Umbaupause war der Weg dann frei für Shawue.
Da ich über die Band um Frontmann Lutz Neumann unlängst schon einen längeren Bericht schrieb, werde ich mich jetzt etwas kürzer fassen. Ich mag beide Bands des Abends wirklich sehr, obwohl sie durchaus unterschiedliche Musik machen. Während Kirsche & Co, das raue, kräftige (Hard-)Rock-Hackebeil bevorzugen, ist es bei Shawue mehr die feine Klinge des Folkrock-Floretts. Auch textlich ist Shawue etwas lyrischer veranlagt, aber nichtsdestotrotz sprechen auch sie die Seele und das Gehirn an, weil sie nichts mit dem Radio-Einheitsbrei aus heiler, schöner Welt zu tun haben. Die Band hat uns durchaus viel zu sagen. Nicht umsonst nennen sie ihre Musik message folk.

Nach dem Intro bei dem man Motive des Liedes „macht die Leinen los“ erkennen konnte legte die Band völlig überraschend mit selten gespielten, älteren Liedern los. „Jokerman“ und „Die heiligen 3 Affen“ entstanden bereits in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Den Affentitel fand ich, wegen der Urwaldgeräusche, die die Musiker am Anfang imitierten, besonders originell. Das ganze Shawue-Geschwader war wieder die pure Spielfreude.
Das „Volkslied“ räumt zum Beispiel mit der typischen deutschen Arroganz bzw. den leider noch in vielen Menschen behafteten Vorurteilen gegenüber anderen Völkern auf. In dem Lied wird eigentlich nur aufgezählt, was aus anderen Ländern kommt und für uns alltäglich ist der Fußball kommt aus England, der Kaffee aus Brasilien, der Tee aus Indien usw.) Gerade weil das Lied so einfach gehalten ist, ist es besonders eindringlich.

Besonders die sehr melodiös-rockigen Stücke wie „Macht die Leinen los“, „Silbermond“, „Sie tanzt auf ihren Rädern“ oder „Scheißkerl“ sind es, die ich besonders mag. Durch Mandoline und Geige kommt der folkige Charakter der Shawue-Musik besonders zum tragen. Das ist eigentlich Wohlfühl- und Tanzmusik mit intelligenten Texten. Ich will damit sagen, dass diese Lieder trotzdem zum Nachdenken einladen. Wo bekommt man das heutzutage in dieser Form sonst noch?

Die Band gab mehrere Zugaben, wobei „32 Volt“ für mich sofort den gedanklichen Bogen in meine Jugend schlug. Ich sag nur das Stichwort Christian „James“ Müller (Honky Tonky Band Bautzen und später Shawue-Bandmitglied). Ich finde, das ist auch ein schöner Schlusspunkt für diesen ellenlangen Erguss aus Buchstaben ;-)

Gruß Kundi.

Fotos Kirsche & Co.

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RE: Aus dem Leben des Taugenichts Kundi und Konzertbericht vom 07.10.2011

in Konzertberichte 2019 und älter 10.07.2013 21:07
von Kundi | 3.250 Beiträge | 7335 Punkte

Fotos SHAWUE

Gruß Kundi

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RE: Aus dem Leben des Taugenichts Kundi und Konzertbericht vom 07.10.2011

in Konzertberichte 2019 und älter 11.07.2013 07:48
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Tja, ja, mein lieber Kundi. Wie sich doch die Szenarien und die Erinnerungen daran gleichen. Deine Zeilen habe ich (noch einmal) mit Genuss gelesen und mir hier und da ein Grinsen nicht verkneifen können. Man könnte glattweg ein Buch daraus machen.

Meine ersten Live-Erinnerungen sind die THEO SCHUMANN COMBO, UVE SCHIKORA, die BEROLINA SINGERS mit einem gewissen Hansi Biebl, die Berliner Stadtmusikanten, die SPUTNIKS und die HENRY KOTOWSKI BAND. Aus deiner Ecke kann ich mich noch gut an DREILÄNDERECK mit Kurt „Saftl“ Gerlach erinnern. Aus Sachsen kamen das PETER ROSENAU QUINTETT mit einem Schulze-Gerlach als Sänger, die VIRGINIAS und eine STUDENTEN-COMBO aus Dresden. Selbst die STERN COMBO MEISSEN sah ich in ihrer Urbesetzung. Von all denen habe ich mir damals schon Autogrammkarten geholt und live unterschreiben lassen.

Mein besonderes Privileg bestand darin, dass unser Beat-Schuppen von Elsterwerda bei mir um die Ecke stand und in zwei Minuten Fußmarsch war ich nachts wieder zu Hause. Der damalige Wirt hat quasi alle Größen der 60er Jahre dorthin geholt und wer nicht im Gesellschaftshaus Elsterwerda spielte, der stand im benachbarten Hohenleipisch oder in Plessa auf der Bühne. In genau jenen Jahren begann auch meine Leidenschaft für Musik zu keimen – fast 40 Jahre ist das her und zieht sich bis in heutige Tage. Ist schon verrückt, oder?

Morgen werde ich in Berlin sein und einen der ganz, ganz Großen live erleben, der damals begann, eine Weltkarriere zu starten – „Keep On Runing“.


www.mein-lebensgefuehl-rockmusik.de
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