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LUKAS NATSCHINSKI - "Unterwellenborn Sessions" - und wie es dazu kam

in CD-, DVD- und Buchveröffentlichungen 08.09.2017 14:56
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Von Plessa zu den Unterwellenborn-Sessions
Vom langen steinigen Weg, den man gehen muss, um historische Kulturhäuser zu retten.

Die Vorgeschichte:

Von meinem 7. bis zum 14. Lebensjahr (von 1957 bis 1964) „durfte“ ich den Geigenunterricht in der Musikschule „genießen“. Dies war meine erste tiefe Erfahrung mit Musik, ehe ich autodidaktisch auf die Gitarre umsattelte. In jene Tage fällt auch eine Klassenfahrt nach Berlin mit einem Besuch des damaligen Metropoltheaters, dem heutigen Admiralspalast. Man spielte uns „Die lustige Witwe“ von Franz Lehar und ich war innerlich ergriffen. Diese Art Musikerlebnisse in der POS (Polytechnische Oberschule) sollten sich auch während der Pennezeit, also an der EOS (Erweiterten Oberschule), sprich Gymnasium, fortsetzen. Per Anrecht ging es regelmäßig mit dem Bus in das Nachbardörfchen Plessa, wo die Landesbühnen Sachsen und das Theater Senftenberg nebst Orchester ihr klassisches Repertoire, in Ergänzung zum Musikunterricht der interessierten Schülerschar darboten. Dafür nutzte man das Kulturhaus in Plessa, das auf Wunsch von Braunkohlenwerk, Kraftwerk und Landwirtschaft gebaut wurde. Träger war dann bis zur Wende das Braunkohlenkombinat. Ein wuchtiger Monumentalbau, der die „Kultur aufs Land“ bringen sollte und brachte. Im Nachhinein darf man durchaus resümieren, dass es gut funktioniert hat und mein Musikverständnis heute ein anderes wäre, hätte es dieses Kulturhaus in Plessa auf dem Lande nicht gegeben. Selbst noch nach der Penne (und der Fahne) war dies ein Ort, wo gute (Rock)Musik und andere Künste, für jedermann nutzbar, ein Zuhause hatten.

Diese mehr als 2.000 Kulturhäuser in der DDR waren vor allem auch ein Platz für gemeinsame Aktivitäten, geselliges Miteinander, statt sich, wie heutzutage in Ermangelung von Kulturhäusern und Jugendklubs üblich, vor die überdimensionalen Flachbildschirme mit schaler Billigunterhaltung ins Private zurückzuziehen, soziale Kontakte oft auf Facebook & Co. zu beschränken oder im Park, mit einer Flasche in der Hand, zu „pflegen“, während der Staat wegschaut. So ein Kulturhaus war mehrheitlich der soziale Mittelpunkt einer Gemeinde oder Stadt, einer Kommune im buchstäblichen Sinn.

Über die wuchtige Architektur mancher Häuser hat sich niemand Gedanken gemacht. Jeder nutzte die Angebote zwischen Gastronomie und der Kulturarbeit. An den Wochenenden tobte im großen Saal der Jugendtanz. Dort rockte ich zur Musik der Bürkholz Formation, von Uve Schikora und von den Puhdys, lange bevor die eine offizielle Namensgebung datierten. Dass ich dort eine Dekade später selbst Rock-Konzerte auf die Bühne bringen würde, habe ich einzig Walter Kotte, dem Chef des Kulturhauses zu verdanken. Der ließ mich mit Freunden gewähren. Wir alle hatten eine Menge Spaß bei Konzerten mit Diestelmann, Biebl, Pankow, Neumi’s Rock-Zirkus oder der Stern Combo Meissen. So ein Haus war der Treffpunkt aller und nicht nur der Dorfjugend.

Nach der Wende sorgte ein anderer dafür, dass meine Beziehungen zur alten Hütte lebendig blieben. Pierre Wilhelm, dessen Großvater Erich Wilhelm dem Orchester der Bergarbeiter vorstand, gehörte zu jenen Bürgern in Plessa, die sich früh gegen einen Abriss wehrten und ihr Haus einer neuen Nutzung zuführen wollten. Man gründete einen Verein, holte sich Künstler, und damit Verbündete, wie Ludwig Güttler nach Plessa und begann, die Politiker beim Wort sowie ihrer Verantwortung zu nehmen und so Druck aufzubauen. Heute weiß ich nicht mehr, wie genau Pierre mich aufgespürt hat, doch ehe ich zur Besinnung kam, war ich Teil eines Teams, das mit dem Pop-Poeten Ruben Wittchow aus Potsdam die CD „Weites Land“ aufnahm und mit der 5-Nationen-Band Rue Lascar eine Reise durch die Lausitz zum Kulturhaus Plessa dokumentierte. Es entstanden ein Film und eine CD, live aufgenommen im großen Saal des Hauses. Beide Male saß Jörg Zinke vom Studio Showcase Potsdam an den Reglern und jedes Mal durfte ich als stiller Beobachter und schreibender Chronist dabei sein. Auch wenn ich inzwischen nicht mehr in der Region lebe, verbindet mich noch immer eine lange Leine mit Pierre, meiner alten Hütte in Plessa und der Idee, diese schönen historischen Kulturstätten und Zeitzeugen aus Stein nicht dem Verfall zu überlassen.
Nur weil sie auch einen Teil von DDR-Kulturpolitik repräsentieren, sind sie dennoch und vordergründig erst einmal kulturelles Gut der Menschen jener Tage, die Angebote aktiv nutzten, in ihnen Kultur und Kunst lebten und erlebten. In allen ostdeutschen Ländern stehen noch solche Häuser, einige davon dem Verfall preisgegeben, ohne Schutz und oft ohne einen Förderer. Herausragend ist der große Kulturpalast in Unterwellenborn, mit seiner Architektur, Ausstattung und Zustand einzigartig in Deutschland, ja in ganz Europa!

Während in Plessa im Rahmen einer umfangreichen Sanierung (u.a. Dank des heutigen Bundespräsidenten, Axel Prahl u.v.a.) inzwischen ein neues Dach die Bausubstanz des Kulturhauses schützt und darunter sich das Leben weiter entwickeln kann, kämpfen engagierte Bürger in Unterwellenborn immer noch darum, dass ihr stolzer Kulturpalast diesen dringend notwendigen Schutz so schnell wie möglich bekommt. Sie nutzen dafür auch die vielfältigen Erfahrungen, die man in Plessa in den vielen Jahren zähen Ringens sammeln konnte. Man nutzt deren entstandene Netzwerke und ein Projekt von Jörg Zinke und Pierre Wilhelm, mit der Musik junger Künstler Aufmerksamkeit zu erzielen. Sowohl die Aufnahmen mit Ruben Wittchow, als auch die mit Rue Lascar, entstanden unter Live-Bedingungen im Saal des Kulturhauses Plessa zeugen davon. Aber auch das Gundermann-Projekt „Gundis Lieder – Gundis Themen, eine Doppel-CD, die vor gleichem Hintergrund mit einigen sehr unterschiedlichen Künstlern produziert wurde, ist ein Schritt in diese Richtung. Für die Musiker, das weiß ich aus eigener Anschauung, war es jedes Mal eine sehr intensive Erfahrung und seltene Herausforderung.

Nun gibt es ein weiteres Tondokument, ein neues Puzzleteil und diesmal geht es um Unterstützung für das Haus in Unterwellenborn. Dem Musiker Lukas Natschinski, ein Gitarren- und Klaviervirtuose und zudem jüngster Sohn des Komponistengenies Gerd Natschinski, ist dieser Ort von Jörg Zinke bewusst vorgeschlagen worden. Pierre Wilhelm hatte Jörg Zinke auf den Kulturpalast aufmerksam gemacht. In dessen großen Saal gibt es einen einmaligen Raumklang, denn Fußböden und Decken wurden aus Holz gefertigt und die Wände sind trapezförmig angewinkelt. Beinahe wie in einem Aufnahme-Studio. Das ist intelligent gebaut und in Kombination mit der architektonischen Gestaltungshöhe des prächtigen Baus einmalig in ganz Europa. Das klangliche Endergebnis der „Unterwellenborn Sessions“ (2017) ist daher auch besonders filigran und intensiv. Ich habe mich davon überzeugt:

Das Album: Lukas Natschinski „Unterwellenborn Sessions“ (2017)

1. Guitar / 2. Revelation / 3. Csàrdàs / 4. Sunny / 5. La Campanella / 6. Mary /
7. Der Mann, der mir gefällt / 8. Hummelflug / 9. Isn’t She Lovely / 10. What A Wonderful World

Für die „Unterwellenborn Sessions“ hat sich LUKAS NATSCHINSKI mit Band einige populäre Standards aus dem Feld zwischen Klassik und Pop ausgewählt und mit zwei Kompositionen aus eigener Feder ergänzt. Es ist eine fast angenehm relaxte Jazz- und Pop-Mixtur entstanden, der sich auch eher „ungeübte“ Ohren leicht nähern und Freude empfinden können. Schon das einführende Stück „Guitar“, eine Komposition von Lukas Natschinski, stimmt auf das Gesamtwerk ein. Über den treibenden Beats demonstriert der Künstler, wie locker und verspielt eine Jazz-Gitarre in nur knapp vier Minuten zu verzaubern vermag. Ebenso entspannt, nur diesmal deutlich mehr mit Jazz-Elementen auf Gitarre und Piano angereichert, demonstriert er leicht und verspielt mit „Revelation“ seinen eigenen Stil. Wer genau hinhört, kann das Motiv von „Isn’t She Lovely“ schon erkennen, das zum Schluss auch vollständig als Song zu hören sein wird. Sehr entspannend und genussvoll sind diese sieben Minuten durchgestaltet, ohne dass auch nur ein Hauch von Dehnung oder Langeweile entstehen könnte. Richtig Freude kommt dann bei “Csàrdàs“ auf. Die wohl bekannteste Komposition des Italieners Vittorio Monti, wird von LUKAS NATSCHINSKI hier leicht und locker neu „verjazzt“ interpretiert. Mit „Sunny“ (1966) von Bobby Hebb ist ein wirklicher Evergreen auf die Scheibe gelangt und, was kaum möglich scheint, Natschinski kann dem Song einige neue interessante Facetten hinzufügen und der Gesang von ANNELIE SCHREIBER bleibt nah am Soul-Feeling, sehr dezent und fast ein wenig cool auf mich wirkend. Wundervoll ausgestaltet faszinieren die solistischen Ausflüge von LUKAS NATSCHINSKI auf seiner Gitarre. Fast schon hitverdächtig, wie er auf dem Klavier mit „La Campanella“ (Glöckchen) von Franz Liszt umgeht und nach einem schwelgerisch ausladende freien Teil wieder zum Thema zurückfindet, um anschließend mit „Mary“, dem zweiten eigenen Werk, zunächst einen Ruhepunkt zu setzen.

Wohl als Erinnerung an seinen 2015 verstorbenen Vater ist „Der Mann, der mir gefällt“ gedacht, eine Nummer, die der Sohn, dem Ausdruck dieses Albums entsprechend, neu bearbeitet hat. Ein weiteres populäres Thema taucht mit dem „Hummelflug“ auf und auch diesmal überrascht NATSCHINSKI mit seinem ideenreichen Spiel am Piano und auf den Gitarrensaiten, dass beide Male aus dem Klassiker eine sehr moderne flinke „Jazz-Hummel“ werden lässt. Für mich sind diese fast sechseinhalb Minuten der absolute Höhepunkt dieses Albums. Da kann auch die Stevie Wonder–Nummer „Isn’t She Lovely“, nun in voller Länge und Schönheit, mit ihrem leichten Swing-Touch nicht mehr ran, obwohl Musik und Text ausgesprochen gut zum Liebreiz des Hauses passen, den der Kulturpalast in einem zugehörigen Youtube-Video ausstrahlt. Zum Ausklang gibt es eine entschleunigende Version des Welthits „What A Wonderful World“ und danach habe ich das Gefühl, dass das Album viel zu kurz geraten ist, denn von diesem so einfalls- und abwechslungsreichen Piano- bzw. Gitarrenspiel kann man, in der richtigen Stimmung, eigentlich nicht genug bekommen. Klasse Album, dem man den besonderen Raumklang auch zu Hause anmerkt. Diese zehn filigran eingespielten und sehr ideenreich arrangierten Songs machen in jeder Sekunde genau den Hörgenuss, den man sich von einer Session erhofft – spannend, unterhaltsam und auf höchstem Niveau abwechslungsreich gespielt. Nicht zu vergessen, das äußerst liebevoll und sehr ansprechend gestaltete 28-seitige (!) Booklet in Bildbandmanier, das noch einmal mit vielen Informationen zum „Projekt Kulturpalast“ aufwartet und das Anliegen, dem damit Ausdruck verliehen wird, mit wenigen treffenden Worten zu erläutern vermag. Vom Begriff „Jazz“ sollte sich der Interessent nicht abschrecken lassen, denn die Scheibe bietet die vielleicht beste Pop-Musik, die man sich idealer Weise heutzutage vorstellen kann. Kaufen, eintauchen und staunen!

Diese „Unterwellenborn Sessions“ wollen ausdrücken, wohin sich eine sanierte Kulturstätte entwickeln soll, nämlich zu einem Ort für alle, die sich künstlerisch beschäftigen und ausdrücken möchten. Das ist besonders wichtig in bewegten Zeiten, wie den unseren. Integration funktioniert nicht am Stadtrand, vom sozialen Leben abgeschirmt, sondern nur im lebendigen achtungsvollen Miteinander. Das braucht neben finanzieller Ausstattung auch Orte, wo die technischen und sozialen Voraussetzungen dafür zu finden sind. Wo man aufeinander neugierig ist, wo man miteinander etwas erleben und erreichen will, haben Konfrontation und Hass weniger Chancen, sollte die Botschaft heißen. Deshalb wird es am 10. September in diesem Haus ein drittes Friedenskonzert geben, bei dem auch der Jazz-Musiker LUKAS NATSCHINSKI dabei sein wird.

Am Vorabend (9.9.17) gibt es erstmals in 62 Jahren Kulturpalast-Geschichte eine sogenannte Record Release Party zu „Unterwellenborn Sessions“, bei der LUKAS NATSCHINSKI mit seiner Musik aus diesem Album live zu erleben sein wird. Es lohnt sich also, dort in Unterwellenborn dabei zu sein. Um das Haus zu bestaunen und gute Musik zu hören, gemeinsam, mit Freunden, Gleichgesinnten und neugierigen Menschen. Für eine neue Zukunft, für ein zweites Leben des Kulturpalastes Unterwellenborn und gleichwohl für ein friedliches und schöpferisches Miteinander der Kulturen. Musik kann diese Barrieren auf spielerische Weise leicht überwinden, heißt die Botschaft.

Angefügte Bilder:
1. Friedenskonzert.jpg
IMG_0921.jpg
IMG_20170702_203048.png
IMG_20170702_203655.png
Natschinski 1.jpg
evtl Hintergrund Außenseite.jpg

www.mein-lebensgefuehl-rockmusik.de
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RE: LUKAS NATSCHINSKI - "Unterwellenborn Sessions" - und wie es dazu kam

in CD-, DVD- und Buchveröffentlichungen 09.09.2017 07:59
von Kundi | 3.250 Beiträge | 7335 Punkte

Lieber Hartmut,

vielen Dank für Deine Gedanken zu den alten Kulturhäusern und zur Lukas Natschinski-Veröffentlichung „Unterwellenborn Sessions“.
Die Rolle dieser Kultureinrichtungen auf dem Lande zu DDR-Zeiten kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Dass sie nach der Wende zum großen teil aufgegeben wurden, war ein großer Fehler.
Diese Häuser hatten großen Einfluss auf das kulturelle Leben. Man musste als Dorfbewohner nicht in die nächste Kreisstadt fahren, um Konzerte, Lesungen usw. zu besuchen. Außerdem waren die Jugendlichen oft unter sachkundiger Anleitung bzw. Aufsicht beschäftigt. Damit sind nicht nur Jugendtanz/Disco gemeint. In vielen derartigen Einrichtungen konnten sich die Heranwachsenden auch künstlerisch entfalten. Weiterhin profitierten die Kulturschaffenden von diesen Häusern, waren sie doch ideale Auftrittsorte und die Terminkalender der Künstler waren im Gegensatz zu heute oft voll.

Gruß Kundi


zuletzt bearbeitet 09.09.2017 08:00 | nach oben springen

#3

RE: LUKAS NATSCHINSKI - "Unterwellenborn Sessions" - und wie es dazu kam

in CD-, DVD- und Buchveröffentlichungen 12.09.2017 22:47
von Holger | 259 Beiträge | 706 Punkte

Hartmut,

es tut sich wirklich viel an Deiner "alten Wirkungsstätte" in Plessa. Wir sind am letzten Sonntag vorbeigefahren. Der gesamte Bau ist eingerüstet und eingeplant, es scheint richtig vorwärts zugehen.

Viele Grüsse aus der alten Heimat.

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