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BILDER EINER AUSSTELLUNG - die Rock-Version CD & DVD

in CD-, DVD- und Buchveröffentlichungen 02.12.2015 17:50
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Bilder einer Ausstellung – die Rockversion, 2015: Manuel Schmid/Buschfunk (01.12.2015)
(Beinahe so etwas wie eine Rezension, nur zu lang.)

01 Promenade 02 Gnomus 03 Promenade 2 04 Vokalise-Interlude 05 Das alte Schloss
06 Schloss Rockstein 07 Eine Nacht auf dem kahlen Berge 08 Das alte Schloss (Nachspiel/Erinnerung)
09 Promenade 3 10 Tuilerien 11 Bydlo 12 Promenade 4 13 Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen
14 Samuel Goldberg & Schmuyle 15 Promenade-Zwischenspiel 16 Promenade 5 17 Der Marktplatz
18 Drum Solo 19 Katakomben 20 Promenade 6 (Con Mortius In Lingua Martua) 21 Bab Yaga
22 Das grosse Tor von Kiew
Bonus auf DVD: 23 Verkaufsgespräche / Drum-Solo


Die Erinnerung daran ist nur sehr schwach, aber ich weiß, dass mich der Musikunterricht damals nicht sonderlich für die großen russischen klassischen Komponisten begeistern konnte. Mit „Peter und der Wolf“ von Prokofjew konnte ich mich nicht identifizieren. Dessen Schönheit begriff ich erst viel später. Die Sinfonien eines Schostakowitsch erschienen mir einfach nur fremd und die „Polowetzer Tänze“ von Borodin waren Opernstücke, mir also sowieso suspekt. Am ehesten kam mir noch Chatschaturoian’s wilder Säbertanz nahe, weil von dem schon eine Rock-Version von Love Sculpture, mit Dave Edmunds an der Gitarre, durch die Äther geisterte. Die nahm quasi die katalysierende Wirkung vieler weiterer Rock-Bearbeitungen vorweg.
Mussorgski mit dem „einfachen“ Klavier-Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ kam irgendwie holprig daher. Ich konnte mit diesen schlichten Klavierepisoden nichts anfangen, konnte deren Genialität noch nicht erkennen und hatte sie schnell wieder vergessen. Das Vergessen dauerte nur kurze Zeit. Als 1971 das Rock-Trio Emerson, Lake & Palmer ihre Live-Version der „Pictures At An Exhibition“ veröffentlichte, da war ich vom ersten Ton an von der Wucht und Dynamik der Musik gefesselt. Nun kaufte ich mir das Original auf Platte und dann die Orchesterfassung. Ich besorgte mir über Umwege das Album von ELP und hatte schließlich auch die Version des Japaners Tomita in meiner Sammlung. In jüngeren Tagen hat mich Paule-POND mit einer weiteren und elektronischen Variante der „Bilder“ glücklich gemacht.

Ich habe mir nicht vorstellen können, dass mich noch einmal eine völlig neue Rock - Version ins Haus und auf meinen Schreibtisch flattern würde. Ist aber genau so geschehen. Die Stern Combo Meissen hat, oder richtiger, die Bearbeitung und das frische Arrangement des Dirigenten STEPHAN KÖNIG und das erfrischende Wirken von MANUEL SCHMID - inspiriert von der Idee und auf Anregung von FRANK SADLOWSKI vom Kulturamt in Grimma - haben nun wohl tatsächlich, um beim Bildhaften zu bleiben, so etwas wie eine Quadratur des Kreises geschaffen.

Am 13. Juni 2015 wurde die Neubearbeitung als Rock-Version beim 1. Landesmusikfest in Grimma live mit Orchester, Chor und Rockband, vor einem begeisterten Publikum, aufgeführt und mitgeschnitten. Mir war es nicht vergönnt, auch dabei zu sein. Doch nun gibt es das Ereignis auf Tonträger gepresst. Im heimischen Wohnzimmer flimmert das Konzert endlich zum ersten Mal vor meinen Augen ab.

Große Bühne, großes Orchester, Chor und das Instrumentarium einer Rockband unter freiem Himmel, der doch noch gnädig ist. Der Dirigent auf dem Podium, den Stab in der Hand und die alte Hammond beginnt das Thema der „Promenade“ zu intonieren. Der musikalische Gang, entlang den Bildern einer Ausstellung, beginnt. Das Orchester steigt ein, auffällig dominieren die Bläser, einem Signal gleich, und dann entfaltet der vereinte Klangkörper seinen vollen Klang. Schon in diesen ersten Momenten ist die Erwartung, wie es weitergehen wird, groß. Sehr groß.

Optisch gelingt, zumindest auf der DVD, die Überraschung, wie man auf den „Gnome“, einen Zwerg, eingestimmt werden kann, beinahe unkonventionell modern. Digitale Medientechnik macht’s möglich und diese Idee, auf unerwartete Art, Reize quasi aus anderen Ebenen zu holen und damit Neugierde für einen neuen Inhalt zu wecken, wird sich als geschickter dramaturgischer Trick erweisen, der uns, einem sichtbaren zweiten roten Faden gleich, durch den ganzen Konzertmitschnitt begleiten und, ein wenig auch, erheitern wird. Ob nun kleine Glas-Marker oder kleine Zahnräder, Musik beflügelt auch die Fantasie derer, die sie machen. So kann der Eindruck vom „Gnomus“, zunächst fast unscheinbar, von leisen zaghaften Tönen zum wuchtigen düsteren Klangbild, wachsen und erfreut letztlich in voller Klangpracht. Der Sehende wird, neben den Klangbildern, weitere Formen entdecken können und sein Vergnügen haben.

Die „Promenade“, das verbindende Glied, als Gesangspart umzusetzen, hat sich Mussorgski sicherlich auch nicht träumen lassen. Doch genau dies, in Melodie und Wort dem Gang zwischen den einzelnen Bildern Ausdruck zu verleihen, ist eine weitere Idee, die Rock-Version zu erweitern. MANUEL SCHMID schafft es tatsächlich, a capella einen Glanzpunkt zu setzen und mit den „Vokalisen“, von REINHARD FIßLER eine emotionale Erweiterung, intensiv und mit einem Hauch von Jazz, in das Werk einzufügen. Was für ein hochemotionaler Moment, MANUEL SCHMID die Noten des erkrankten und kämpfenden ehemaligen Frontmannes singen zu hören!

Ein wenig „restauriert“, erstrahlt „Das alte Schloss“ in neuem Glanz (und Flitter) und hat mit „Schloss Rockstein“ von MANUEL gar einen neuen, adäquaten Nachbarn zur Seite bekommen. Von den Zinnen beider ist die opulente „Nacht auf dem kahlen Berge“, ebenfalls mit orchestraler Neugestaltung, gut zu beobachten. Alle drei fühlen sich für mich wie eine Suite inmitten des Werkes an, wie aus einem Guss und mit all der möglichen Pracht, bis hin zu einem Orchesternachspiel, ausgestattet. Chapeau (!), das hat genau jene fesselnde Magie, die ich erhofft hatte.

Die musikalischen „Tuilerien“ öffnen Augen und Ohren alle Möglichkeiten sowie der eigenen Fantasie große Räume, wie die eines gleichnamigen Gartengestalters aus Florenz, der solche Räume schuf, in denen Erwachsenen spazieren gehen und Kinder toben, ohne die Ermahnungen zu beachten. Der sich zunächst noch zurückhaltende Klang des Orchesters steigert sich nach und nach, um am Höhepunkt dem Dirigenten STEPHAN KÖNIG Freiräume zu öffnen, die er, welch wundervoller Stilbruch und eben auch Nichtbeachtung von Stil, das Pult verlässt und am Piano einen Platz findet, zum Spielen mit der Musik, in beswingten Piano-Improvisationen und im Stile eines ausgebufften Boogie-Woogie-Pianisten. Verdienter Zwischenapplaus und Chapeau nun zum Zweiten! Das ganze Orchester groovt mit und die Herren Rocker haben, für alle sichtbar, ihre helle Freude am verspielten Crossover und Miteinander. Der behäbig nachfolgende „Bydlo“ (mit Zahnradantrieb) ist dann noch ein Sahnehäubchen oben drauf gesetzt und das „Ballett der noch nicht geschlüpften Kücken“ setzt diesen Eindruck, schon wieder mit einem optischen Querverweis versehen, mit spielerischer Leichtigkeit fort. Genuss und Vergnügen pur.

Noch einmal verlässt STEPHAN KÖNIG seinen Dirigentenplatz, um den Streit der beiden „Goldberg & Schmuyle“, mit ihren jeweils unterschiedlichen Motiven, am Piano mit swingenden Improvisationen einen besonderen Ausdruck zu verleihen. Wenn der aufmerksame Hörer aus diesem „Durcheinader“ heraus noch andere bekannte (russische) Motive erkennt, findet er einen zusätzlichen Reiz, der mich wiederum an meinen Russischunterricht erinnert hat (und den der Ossi mit einem Grinsen im Gesicht genießen kann). Ein Zwischenspiel und die Promenade, diesmal nur Orchester und Orgel, führen den Hörer direkt zum „Marktplatz“ mit seinem Stimmengewirr und hektischer Betriebsamkeit. Genüsslich darf man wieder den optischen Querverweis in die Moderne bestaunen. Klasse, wie sich aus diesem verquirlten Treiben ein filigranes Percussionsfeuerwerk der besonderen Art herausschält, aus dem sich, in Erweiterung der Mussorgski’schen Grundidee, ein Solo des Drummers entwickelt, der sich gar als musikalischer Marktschreier in Szene setzt. Es scheint sich alles einfach so zu entwickeln und nur entfernt ahnt man vielleicht die Mühe, die dahinter im Verborgenen steckt.

Wie aus Filmszenen, in denen jemand durch unterirdische Kanäle kriecht, scheinen die Klänge zu den „Katakomben“ zu sein. Es ist dunkel und die Spiegelbilder wabbeln an den Wänden entlang. In diesem Fall übernehmen das die Figuren aus dem Synthesizer, die wie Tupfer im düster blauen Licht umher springen. Dann ein leises Klingeln, die Aufmerksamkeit wird erhöht und zur Tonfolge der „Promenade“ in Moll spricht der „alte Weise“ die wahren Worte „in der Sprache der Toten“: „Leben ist Tod, wirkt fort in Ewigkeit.“ Das ist dramaturgisch ungemein wirkungsvoll und sehr beeindruckend zugleich, wie MARTIN „der Schwarze“ SCHREIER diesen Part souverän bewältigt. Chapeau zum Dritten!

Krähenfüße auf rotem Teppich – was habe ich geschmunzelt und vielen anderen wird es vermutlich ebenso ergehen. Die Bühne, in blutrotes Licht getaucht, die Orgel mit fett stampfenden Akkorden und die Synthesizer, die Mörser und Stösel (statt Besen) imitierend, machen uns die böse Hexenkreatur im Dunkel des Waldes und den Spaß am Spiel mit dem Bild lebendig und nach vollziehbar. Und endlich erhebt sich eine Knabenstimme, rein und klar, über den Klang der Röhrenglocken (Tubular Bells), das Grande Finale und „Das große Tor von Kiew“ einleitend. Noch einmal eine „Promenade“, diesmal allein vom Chor intoniert, und dann wachsen alle Beteiligten zum großen Schlussakkord zusammen: „Sag’, was werden wir sehen?“.

Man hätte meinen können, die (Musik)Welt braucht keine weitere moderne Bearbeitung der „Bilder“ von Mussorgski. Es sei alles gesagt und wir hätten alles gehört. Dass es nicht so sein muss, zeigt diese neue Rock-Version auf beeindruckende Weise. Mein Gefühl meint, es wurde verantwortungsbewusst mit der Vorlage umgegangen, aber sie hat sich auch nicht gewehrt, auf kluge Weise ein wenig und zu ihrem Vorteil, bearbeitet und erweitert zu werden. Sogar mit Chor- und Sologesang, mit Rezitativ und mit den neuen digitalen Medien. Der die Idee hatte, die sie unterstützt haben und diejenigen, die sie auf die Bühne (und nun auch auf Tonträger) brachten, gebührt höchster Respekt und Anerkennung. Die Goldene Henne braucht es dafür nicht, mediale Beachtung und künstlerische Würdigung aber ist das Mindeste, was folgen muss, denke ich wider besseren Wissen. Hier ist Rock- und Musikgeschichte geschrieben worden und die Freude und der Stolz darüber darf nicht nur auf den Osten des Landes beschränkt bleiben.

Die dieses Werk schufen, sind gestandene Musiker, Menschen mit kreativen Weitblick und so mancher unter ihnen, dem es Vergnügen bereitet, Krusten beiseite zu sprengen, alte Wege zu verlassen und all jene mitzureißen, die sich vielleicht schon eingerichtet hatten, ohne es zu merken. Konzertbesucher und Konsumenten inbegriffen. Für mich, der wie andere auch, viele dieser weiten Wege mitgegangen ist, macht es Freude, die Combo wieder in dem Stadium zu erleben, das ich gern ihr „klassisches“ nenne, ohne die Notwendigkeit der anderen infrage zu stellen. Vor den Boxen zu sitzen, den Blicken der Kamera in die Details zu folgen, mich an der Folge des Konzerts sowie der ausgewählten Mittel zu erfreuen, kann ich nun genießen, so oft ich möchte. Ich kann diesen satten Sound wuchtig werden lassen und, damit es keinen Ärger gibt, meine Nachbarn dazu bitten, um das Gemeinsame auch privat zu spüren. Das alles kann, so glaube ich, dieses Konzertereignis bewirken und darüber hinaus vermag jeder entdecken, was sein Gefühl im vorgibt, finden zu müssen. Was so wirkt, nennt man Kunst.

Lobend nicht unerwähnt bleiben soll die geschmackvolle Verpackung der Doppel CD-DVD. Auch dafür sind Formen gefunden, und das ist beileibe nicht nur äußerlich gemeint, die dem kunstvollen Inhalt gerecht werden. Das beginnt mit der Auswahl des Cover-Gemäldes, setzt sich bei der Gestaltung des Inneren fort und findet im kleinen aber feinen Booklet, mit allen wichtigen Informationen, bis hin zu den Texten, seine Vollendung. Wenn es jetzt noch eine limitierte Vinylausgabe werden könnte, wäre der Schreiber dieser Zeilen glücklich wie ein kleines Kind am Heiligen Abend. Die Vinylvariante dürfte dann als Bonus den „Bolero“ von Ravel beinhalten, so wie beim Vinyl von „Pulse“ zusätzlich „One Of These Days“ zu hören ist.

Während die Szenen laufen, die Bilder sich abwechseln und ich durch das Werk geleitet werde, habe ich die ganze Zeit, und jedes Mal neu, ein Bild vor Augen: Den Weg unten im Tal, der steile Wände zu beiden Seiten wirklich verbindet. Diese künstlerische Maxime, so wie sie STEPHAN KÖNIG im Booklet zur CD und DVD formuliert, ist genau jenes Bild, das ich all die Jahre hindurch immer gesucht hatte, ohne zu wissen, das ich schon darauf stehe. Wir brauchen keinen Gang über gebaute Brücken, viel eher ein gemeinsames Erwandern und Erleben der Wege. Chapeau zum Vierten und Letzten! Dieses Bild und seine Umsetzung ist für mich das Großartige an dieser wirklichen Synthese. Kein gestelztes Nebeneinander, kein starres Wiederholen oder Verrücken von Strukturen, sondern ein schöpferisches Ineinanderfließen und sogar Hinzufügen. Des Inhaltes und der Botschaft wegen und nicht, um schnell Effekte zu erhaschen. Ich bin begeistert! Aber ich wünsche mir auch, es möge sich bald ein kluger Entscheider und Visionär finden, der mindestens noch eine weitere Aufführung auf den Weg bringen will. Gerne in Halberstadt und dann die „Bilder“ von Mussorgski bitte im Dom und nirgendwo sonst.

Angefügte Bilder:
SCM 002.JPG
SCM Cover.jpg

www.mein-lebensgefuehl-rockmusik.de
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