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RAY WILSON mit GENESIS CLASSIC an der F60 bei Lichterfeld

in Konzertberichte 2019 und älter 06.07.2014 19:26
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Ray Wilson – mehr als nur Genesis Classic (05.07.2014)

In den vergangenen Stunden sind meine Erinnerungen weit zurück in die Vergangenheit gewandert. Zurück zum ersten gefalteten Brief aus Schottland mit blauen Luftpostpapier, an die ersten Postkarten von den Orkney Inseln und zur ersten Vinyl-Single. Später wurden die Briefe immer dicker und meine Wünsche nahmen konkrete Formen an. Die ersten Langspielplatten in zollamtlich geöffneten Päckchen erreichten mich und im Sommer 1975 hielt ich mein erstes eigenes Album von Genesis in den Händen: „Selling England By The Pound“ (England pfundweise verkaufen). Das waren stets sehr glückliche und spannende Stunden, wenn sich wieder eine neue Scheibe auf dem Plattenteller drehte.

Daran musste ich denken und wie wir uns unter Freunden über diese Musik in oft stundenlangen Gesprächen austauschen konnten. Heute weiß ich, dass mir mein „geiziger“ Orcadian eines der besten Genesis-Alben und damit auch eines der innovativsten dieser Stilrichtung überhaupt geschenkt hatte. Kein Wunder also, dass ich spätestens von da an zum glühenden Verehrer dieser Musik und der Band wurde. Das relativierte sich erst, als Phil Collins nach und nach eine Pop-Gruppe aus dem sperrigen Projekt geformt hatte. Den kommerziell erfolgreichen Pfaden wollte ich nicht mehr folgen, denn die facettenreichen Songstrukturen mit ihren surrealistischen Texten oder den gesellschaftskritischen Bezügen waren mir allemal lieber, als die „Ich kann nicht tanzen - Phase“. Die Band füllte damit zwar Stadien, hatte aber für meinen Geschmack an Format verloren. Als dann Phil Collins das sinkende Schiff verließ, glaubte ich eher an das Ende von Genesis, denn an ein Album, das sich noch einmal rückbesinnen könnte. „Calling All Stations“ mit dem neuen Sänger RAYILSON wurde aber genau das – eine Rückkehr zu alten Tugenden und ein widerborstiges Aufbäumen gegen den Ausverkauf von Stil und Anspruch. Genützt hat es nicht viel, aber es hat bei den Fans wenigstens ein gutes Gefühl zum Abschluss hinterlassen.

Statt Genesis im Konzert, erlebte ich die Kanadier MUSICAL BOX und bekam auf diese Weise einen guten Eindruck von der Faszination der frühen Genesis – Jahre mit PETER GABRIEL am Mikrofon. Den Meister selbst erlebte ich im grünen Rund der Jungen Garde und war begeistert. Das konnte auch ein Regenschauer nicht verhindern, der sich vom Sachsenhimmel ergoss, so wie heute am Nachmittag. Mit einer Regenplane im Gepäck – man kann ja nie wissen - fahre ich zum zweiten Mal in diesem Jahr zur F60, der riesigen alten Förderbrücke bei Lichterfeld. Auf den Plakaten steht in großen Buchstaben „Genesis Classic“ und ich möchte wissen, ob damit eher die klassischen Songs der Band oder die instrumentale Aufstellung der Begleitband von RAY WILSON gemeint sind. Experimente dieser Art müssen nicht zwangsläufig von künstlerischem Erfolg gekrönt sein, der Einsatz von Streichern, anstelle der für Genesis typischen Keyboard-Klänge, verheißen einen spannenden Abend an einem „strange place“, wie es RAY WILSON später formulieren wird. Zu dieser abendlichen Stunde bin ich einerseits sehr neugierig, ich kann aber auch eine gewisse Skepsis nicht verleugnen.

Das Areal unter der gewaltigen Stahlkonstruktion ist gut gefüllt und Regenwolken kann man nur noch am Horizont erkennen, als auf die Minute pünktlich die Musiker auf der Bühne erscheinen. Von so viel Pünktlichkeit überrascht, strömen die Besucher aus allen Ecken und von den Ständen zu ihren Plätzen. Die Klänge von „Turn It On Again“ gehen wie ein Ruck durch die Reihen und ein Jubel bricht los, als RAY WILSON zum Mikrofon tritt, um mit dem Klassiker aus dem Album „Duke“ (1980) eine Reise in die kommerziell erfolgreichere Single-Welt der Kult-Band zu starten. Es folgen von „Genesis (1983) „That’s All“ und „Another Day In Paradise“ (Ein anderer Tag im Paradies), eine Nummer, die Phil Collins 1989 schrieb, um auf das Problem der Obdachlosigkeit aufmerksam zu machen. RAY WILSON nimmt sich dieser Songs aus den 1980ern an, ohne an ihnen spür- und hörbar „gebastelt“ zu haben. Damit scheint mir auch der weitere Verlauf des Abends vorgezeichnet.

Als RAY WILSON mit „Wait For Better Days“ einen seiner neueren eigenen Songs ankündigt, werde ich zum ersten Mall hellhörig, denn diesmal sind es auch seine eigenen Ideen und Empfindungen, die in dem Lied stecken und die er als „dont’ see it as the end, is the start of something new“ ankündigt und erläutert. Einen Bruch im Leben zu spüren, kann auch den Start in einen neuen Abschnitt bedeuten. Der gefühlvoll vorgetragenen Ballade merkt man an, wie sehr der Sänger selbst im Inhalt verwurzelt ist und ein hinreißend, von MARCIN KAJPER gespieltes Saxophon-Solo, unterstreicht diesen Eindruck noch zusätzlich. Jetzt scheint der Sänger ganz bei sich selbst zu sein und schon wenig später verstärkt sich dieser Eindruck noch einmal. „First Day Of Change“ stammt ebenfalls aus seiner Feder und beschreibt die Situation, dass ein neuer Tag vielleicht auch eine neue Chance sein kann. Beide Lieder überzeugen mich vom ersten Augenblick an, weil sie tiefer in die Seele des Künstlers blicken lassen, ohne sich eine Genesis-Maske vor das Gesicht halten zu müssen. Klasse!

Spätestens danach ist es endlich Zeit, den vielen angereisten Fans die erhofften großen Genesis - Hits von „Carpet „Crawler“ über „No Son Of Mine“ und „Invisible Touch“ zu schenken. Die Band um den charismatischen Sänger funktioniert perfekt und zaubert, mit den beiden Violinen im Hintergrund, den Sound einer Band, die es nicht mehr gibt. Die Illusion aber, die hier unter dem Stahlriesen am Rande eines unheimlich großen ehemaligen Tagebaus entsteht, versetzt die Massen in Stimmung und sorgt sogar dafür, sich am Rande des Areals in Tanzbewegungen zu üben. Für einen Moment erliege auch ich dieser Magie und so stelle ich mir vor, dort vorn würden neben RAY WILSON noch immer TONY BANKS und MIKE RUTHERFORD, das letzte Genesis-Line-Up, auf der Rampe stehen. Was für eine tolle Vorstellung, die Band gäbe es noch als Trio und sie würden die kleinen Klubs und Festivals besuchen. Doch „Inside“, der große Überraschungshit von STILTSKIN mit RAY WILSON als Shouter, holt mich mit seinen Grunge - Facetten wieder zurück in die Realität. Es kracht wie vor zwanzig Jahren, als der Song die Charts stürmte und ein junger sympathischer Schotte sich anschickte, eine große Karriere zu starten – und jetzt ist er hier und versetzt die F60 in Schwingungen.

Inzwischen ist es dunkel geworden. Der Stahlriese zeigt seine Positionslichter und im weißen Kegel eines Spots schreit das Saxophon sein Solo in die Nacht, das schließlich in „Not About Us“ mündet. Es ist, nach „Congo“, der zweite Song des Abends vom finalen GENESIS – Album, das RAY WILSON mit seiner Stimme geprägt hat. Das ruhige Stück mündet in der Schmuse-Ballade „One More Night“ und diese wiederum in ein Solo für DAREK TARCZEWSKI an den Tasten. Nachdem auch „Follow You, Follow Me“ verklungen ist, gibt uns RAY WILSON mit „Change“ noch einmal Einblick in sein Schaffen als Solist und in seine Gedankenwelt. Der Song beschreibt sehr beeindruckend das Zustand, mit sich selbst im Reinen zu sein oder wie es RAY WILSON bei seiner Ansage formulierte: „Beeing happy with who you are“. Da bin ich ganz und gar bei ihm und fühle mich als „freischaffender Musikjournalist“, wie mich der Veranstalter verschmitzt nannte, bestätigt.

Wieder einmal hängt sich der Sänger seine Gitarre um und dann ist das Intro von „Solsberry Hill“, von zwei Gitarren synchron gespielt, zu hören. Wie auf ein anonymes Kommando steht jetzt fast jeder im Rund, um sich klatschend im Takt zu wiegen. Mit einem weiteren Höhepunkt wird jetzt langsam das Finale eingeläutet. DAREK am Piano begleitet ALICJA CHRZASZCZ bei „Blood On The Rooftops“, einem solistischen Ausflug mit der Violine. Als mit BASIA SZELAGIEWICZ die zweite Dame mit ihrer Violine in das Spiel einsteigt, werden rockige Klänge mit Zitaten aus Vivaldi’s „Der Fühling“ wild und gekonnt von den beiden Ladies miteinander vermischt. Die Euphorie in den ersten Reihen erreicht endlich ihren Höhepunkt zu den Klängen von „Land Of Confusion“ und „Mama“. RAY WILSON lebt beide Klassiker, inklusive der „Spotszene“, genüsslich aus, verabschiedet sich und verlässt die Bühnenbretter ….

…. um wenige Augenblicke später wieder für „Calling All Stations“, dem Song und Album, das ihm zum Genesis-Sänger machte, zurück zu kommen. Die Wucht der Klänge kracht von da oben in die Massen, die sie dankbar aufnehmen und ihrer Begeisterung längt die Zügel abgestreift haben. Es ist kaum zu glauben, dass dieses letzte Album von Genesis, mit RAY WILSON als Sänger, auch schon wieder mehr als 15 Jahre her ist, denke ich mir, während unter mir die Boss-Box pulsiert und ihre Stöße ausspuckt.
Etwas wehmütig, aber auch glücklich, hier vor der Rampe diesem Mann mit seiner markant-rauchigen Stimme direkt in die Augen sehen zu können, fühlen sich die Empfindungen in mir an. Es ist, wie mit manch anderen meiner Helden aus längst vergangenen Zeiten auch. Ich bin innerlich tief bewegt, die Musik noch live erleben zu dürfen, aber auch irgendwie traurig zu spüren, dass das Original wohl für alle Zeiten nicht mehr erreichbar sein wird, fast wie eine „unsichtbare Berührung“.

Nach dem Konzert bin ich aufgewühlt, glücklich und habe mich, wie viele andere, mit Handschlag von einem großartigen Sänger verabschiedet. So etwas wie ein Genesis-Gefühl hat sich, im Gegensatz zum Konzert von MUSICAL BOX aus Kanada, bei mir nicht einstellen wollen, dafür aber die Begeisterung für einen Sänger mit Stimme und ohne Allüren. Der, im Vergleich zu mir, um knappe zwanzig Jahre jüngere Künstler hat uns eben seine Hits von Genesis präsentiert und dies in seiner ganz eigenen und unverwechselbaren Art als Rocker. Den Zusatz „classic“ habe ich für mich gestrichen, er ist unnötig, denn RAY WILSON steht für sich. Vielleicht geht er ja noch einmal auf Tour und dann ohne meist die Lieder von Genesis auf der Set-List zu haben. Dann würde ich gern noch einmal diesem RAY WILSON zu einem seiner Konzerte folgen und sei es in den fernen Harz.

Angefügte Bilder:
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www.mein-lebensgefuehl-rockmusik.de
zuletzt bearbeitet 06.07.2014 19:27 | nach oben springen


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