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LIFT im Schlosstheater Ballenstedt

in Konzertberichte 2019 und älter 04.02.2018 17:41
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

LIFT im Schlosstheater Ballenstedt (02.02.2018)

Heute fahre ich in das nur dreißig Kilometer entfernte Ballenstedt. Hier gehen die Ausläufer der Berge sanft in einen gepflegten Park mit einem Schloss sowie einem Theater über. Im Schlosstheater steht LIFT auf der Bühne und ich brauche, nur ein paar Wochen nach dem Tod von Till Patzer, noch einmal das Erlebnis und den Klang jener Lieder, die das Aroma einer lauen „Sommernacht“ verströmen und den Geschmack von „Wasser und Wein“ vermitteln können. Tief drinnen in mir kämpfen ein trauriges Gefühl, die unfreiwillige Erinnerung, und die Vorfreude auf vertraute gute Musik miteinander. Wie auf einem Thron reckt sich das kleine Theater über die Stadt, das mich drinnen mit einer intimen Nähe eines seltenen Kleinods empfängt. Beinahe fühle ich mich wie in einem Puppenhaus, als ich den Saal mit den Rängen betrete. Was für ein zierliches Schmuckstück! Ich bin begeistert, mich hier der Musik von LIFT, meinen Empfindungen sowie Erinnerungen, hingeben zu können.

Der Saal und die Ränge sind bestens gefüllt, als WERTHER LOHSE zu den ersten Akkorden von „Und es schuf der Mensch die Erde“ ins Rampenlicht tritt und von tosendem Applaus empfangen wird. Mir ist, als wäre die Zeit stehengeblieben und diese vierzig Jahre alten Eindrücke würden wieder lebendig. Kraftvoll dringt der Refrain in unsere Ohren und einige Körper schwingen schon im Rhythmus mit. Bei „Zufrieden“ setzt RENE DECKER zum ersten Mal mit seinem Saxophon solistische Akzente. Ich schließe die Augen und denke mir in den Sound Till Patzer hinein, auch wenn der nur noch selten mit der Band unterwegs war. Jetzt, da er aber fehlt, ist dieser Eindruck umso schmerzlicher, ganz egal, ob vorn eine „Falsche Schöne“, die „Fahrt übers Meer“ oder gar von der Sehnsucht „Nach Süden“ gesungen wird. Dies sind alles unvergleichliche kleine Meisterwerke, die sich in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation eingeprägt haben. Nichts und niemand wird das je ändern können, denn irgendwie fahren wir alle hier „unserer Sehnsucht hinterher“.

Endlich das vertraute Rauschen der Keyboards und während WERTHER LOHSE jetzt die „Meeresfahrt“ ankündigt, zeigt sein Finger nach oben und beinahe geht sein „Für Till Patzer“ im Anschwellen dieser Klänge unter. Jetzt müsste eigentlich die Querflöte einsetzen, aber RENE DECKER kompensiert deren Fehlen gekonnt mit dem Spiel seines Saxophones, das den langen Instrumentalpart einleitet, bis der Sänger wieder die Bühne betritt und dann lauschen wir: „Nach dem Sturm da trieben tausend Blüten auf dem Meer.“ Es ist immer noch zum Heulen schön, auch wenn der Abgleich mit dem Original die kleinen aber wesentlichen Unterschiede offenlegt. Ich setze mich auf einen der freien Plätze, genieße diese einfühlsame Melodie, die sich schließlich zum einem instrumentalen wuchtigen forte steigert und dann bricht sich ein tosender Orkan aus dreihundert Kehlen seine Bahn. Was für ein Wahnsinnsstück!
Ich könnte ein Durchatmen gebrauchen und etwas frische Luft.

Danach blühen die „Gelben Wiesen“ und wieder ist es RENE DECKER, der mit dem Saxophon weitere Farbtupfer einbringt. Es reiht sich ein Klassiker an den nächsten, auf „Meine Schulden“ folgt bald der „Erste Reif“. Diesmal sind es PETER RASYM am Bass und PETER MICHAILOW hinter den Becken und Fellen, die solistische Akzente setzen und das Publikum zu Applaus verleiten. Jetzt ist die Stimmung auf dem absoluten Höhepunkt. ANDRE JOLIG am Piano begleitet auf sehr einfühlsame und dezente Weise den Gesang von „Mein Herz soll ein Wasser sein“. So leise und dennoch so intensiv habe ich die Melodie schon lange nicht mehr gehört. Diesen Abend, in diesem Haus, umweht eine seltsam schöne und innige Aura. Zumindest empfinde ich das in diesen Minuten so, zumal WERTHER bei „Am Abend mancher Tage“ mit seinen Arm noch einmal deutlich nach oben zeigt, denn der Songs wurde einst für einen tragischen Anlass geschrieben und irgendwie vereinen sich in diesen Minuten die Erinnerungen an Till Patzer, an Gerhard Zachar und Henry Pacholski.

Die treibenden Akkorde der „Tagesreise“ holen mich zurück in die Gegenart. Ein Ruck geht durch die Stuhlreihen, die Körper bewegen sich und man klatscht in die Hände. Das Grande Finale ist eingeleitet und die Band rockt wie in den guten alten Zeiten. Ich stehe auf der Galerie und erlebe das wogende Meer der Köpfe unter mir und die vielen Hände, die sich applaudierend denen auf der Bühne entgegen strecken. Welch schönes Bild der Gemeinsamkeit und kein Gedanke daran, dass Musiker und ihre Fans inzwischen gemeinsam in die Jahre gekommen sind. Ich, und viele andere, mit all ihren Erinnerungen und Gefühlen mittendrin. Ich bin glücklich und mit frischer starker Energie aufgeladen, der Akku voll.

Eine der schönsten Rock-Balladen aus DDR-Zeiten, die „Abendstunde, stille Stunde“ ist schon Zugabe. Für mich ist diese Melodie perfekt bis zum Gehtnichtmehr. Es stimmt einfach alles und dennoch kann ich nicht verleugnen, dass nach meiner Generation, geboren und aufgewachsen in der DDR, kaum noch jemand den Wert dieser Lieder zu würdigen weiß. Ich bin zutiefst dankbar, das erlebt zu haben und zugleich traurig, wie im geeinten deutschen Land mit dem kulturellen Erbe derer aus dem Osten, sprich DDR, heute umgegangen wird. Dieses Lied von Zachar und Lohse mit dem filigranen Text von Kurt Demmler ist ein Juwel, wie viele andere auch, eine Meßlatte, unter der die meisten „gebrauchten Liedchen“ einfach hindurch rutschen, ohne Spuren in der Geschichte zu hinterlassen. Irgendwann wird irgendwer all die Maßstäbe wieder gerade rücken müssen!

Keine andere Kunstgattung geht so verschwenderisch mit Gefühlen um und kaum eine andere berührt so nachhaltig, wie eben Musik. Das zeigt sich beim gemeinsamen Singen des Volksliedes vom „Wasser und Wein“, dessen letzte Töne im Jubel und weiteren Zugabe-Rufen untergehen. Doch das letzte Wort des Abend spricht Werther: „Wir kommen wieder, wenn wir eine neue Regierung haben.“ Ich sehe in lachende Gesichter, die nach draußen gehen. Für eine unbestimmte Zeit wird dieser Abend auch mein letzter Besuch bei LIFT gewesen sein. Die Erinnerungen an Till sind noch zu frisch und Zukunft derzeit nur undeutlich planbar. Irgendwann im Sommer, wenn die Wiesen gelb und bunt blühen, und manche schwere Last leichter zu tragen geht, lasse ich mich gern noch einmal locken, den LIFT zu besteigen. Mein Glas ist noch immer halb voll, obwohl ich täglich davon trinke.

Angefügte Bilder:
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www.mein-lebensgefuehl-rockmusik.de
zuletzt bearbeitet 04.02.2018 17:45 | nach oben springen

#2

RE: LIFT im Schlosstheater Ballenstedt

in Konzertberichte 2019 und älter 05.02.2018 05:30
von Kundi | 3.250 Beiträge | 7335 Punkte

Ganz lieben Dank für diesen schönen, persönlichen und mit Emotionen gespickten Konzertbericht, lieber Hartmut.
Ich weiß, dass Du mit Till sehr verbunden warst und dass dir dieser Konzertbesuch und der Bericht nicht einerlei waren. Deshalb finde ich die Zeilen so besonders.
Sie sind intensiv, gehen unter die Haut und sie würdigen/ehren auch Till Patzer angemessen.
Auf die unterschiedlichen Details von Originalversion und heutiger Spielweise werde ich bei meinem nächsten LIFT-Besuch genauer achten.

Gruß Kundi


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#3

RE: LIFT im Schlosstheater Ballenstedt

in Konzertberichte 2019 und älter 07.02.2018 15:50
von SN-Nittel | 329 Beiträge | 724 Punkte

Lift...eine Combo, die Geschichte geschrieben hat und Songs für die Ewigkeit eines Ostdeutschen herrausgebracht hat.
Ich mag viele Songs und höre sie fast 40Jahre...umso größer ist eigentlich eine gewisse Enttäuschung welche Entwicklung die Band genommen hat in den letzten ... Jahren.
Sorry.

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#4

RE: LIFT im Schlosstheater Ballenstedt

in Konzertberichte 2019 und älter 08.02.2018 21:59
von toms-daddy | 99 Beiträge | 223 Punkte

Herzliche Grüße aus dem Wintersport in Österreich! Aber ich muß mich trotzdem melden.
Es ist unglaubliche zehn Jahre her, dass Matti & ich unendlich viel Zeit, Fahrtkilometer und jede Menge Liebe in ein 45-Minuten- Konzert namens Apfeltraum- unplugged steckten. Wieviel Freude, welche Euphorie hatten wir alle an jenem Abend in Niesky - das werde ich nie in meinem Leben vergessen! Und danach wurde vieles anders. Das Programm fand keinerlei Beachtung. Wir hatten auch niemanden, der an irgendwelche Türen klopfte. Ein Abend voll mit Gesprächen, neuem Kennenlernen, Abbau von Vorurteilen - einfach unwiederholbar. Wir alle haben inzwischen neue Erfahrungen gesammelt und hätten gern auf manche davon verzichtet. Krankheitshalber blieb uns beiden, weiser weißer Mann Hartmut, das Wiedersehen bei Lift in der großen Besetzung in Dresden versagt..
Aber das Leben geht weiter, muss es ja wohl auch. Und ich freue mich, das Lift die Keyboards wiederentdeckt hat und dass inzwischen auch mein Sohnemann neben " Weißes Gold" von der Stern Combo nun auch die"Meeresfahrt" von Lift schätzt.
Ich freue mich, dass wir alle uns erhalten geblieben sind.
Darauf einen Obstler - wir sehen und hören uns!

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