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DuckTapeTicket live in der Kirche der Huysburg

in Konzertberichte 2019 und älter 11.09.2017 19:23
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

DuckTapeTicket auf der Huysburg (09.09.2017)

Die Huysburg, nördlich von Halberstadt auf einem Bergrücken des Huy gelegen, ist ein stiller Ort, wo man gut auf Entschleunigung schalten kann. Manchmal brauche ich das auch, so wie heute. Mir hilft dann oft Musik, weil sie meine Aufmerksamkeit fordert und mich entführt. Für eine reichliche Stunde weg von den kleinen Alltagsgespenstern, die zu besiegen nicht immer leicht ist. Es tut mir gut, aus der Stadt heraus zu fahren, hoch, in Richtung der bewaldeten Hügel. Oben durchatmen, eintreten und im Innenhof ganz langsam runterkommen. In der Nachmittagssonne blüht es bunt vor den Mauern, es ist still und selbst der Wind wird hier faul und träge. Es fühlt sich an wie „Lazy Sunday Afternoon“ (1968) von den guten alten Small Faces. „I've got no mind to worry I close my eyes and drift away”. Beinahe hätte ich leise für mich diese Melodie gesummt, als ich die Kirche betrete. Schön, wieder hier sein zu können. Es tut irgendwie gut, hier Ruhe und Besinnung zu finden und Musik zu hören.

Drei klassische Streichinstrumente, zwölf Saiten und drei junge Typen in adrett schwarzer Kleidung in einer Kirche aus uraltem Stein. Es ist Samstagnachmittag, Kaffeezeit und gleich werden wir, suggeriert dieser Anblick, ein Menuett oder eine Sonate zu hören bekommen. Stattdessen füllt das Kratzen eines Bogens auf den Saiten des Cello den Raum. Ein Mal, zwei Mal, dann wieder und rhythmisch entwickelt sich ein Groove. Der Cellobogen kratzt und streicht die Saiten des Instruments, lockt Violine und Viola in das Spiel einzusteigen, aus dem sich eine Melodieschleife entwickelt. Viola und Violine werfen sich die Einsätze zu und spielen mit dem Melodiestück auf immer wieder neue Weise. Klassik – nein danke! Dies hier ist einfach nur Spaß am Musizieren, wie sich dieses „You don’t have to be drunk to feel that way (but it certainly helps)“ entwickelt, jedem der drei Instrumente Melodie- oder Rhythmusfunktion zuspielt und sicher einige Zuhörer nach nur drei Minuten ratlos staunen lässt. Diese haben gerade live mitbekommen, wie „klassische“ Strukturen einfach mal so beiseite geräumt werden, um frei und ohne Grenzen drauflos zu musizieren. Ich bin baff! So also hört und fühlt Innovation auf musikalisch an, so also wird sich diese Kaffeemusikstunde im alten Kirchengemäuer fortsetzen.

Im Unterschied zu gängigen Rockmusik- und Liedstrukturen, kennt das freie Spiel keine vorgegebenen Grenzen. Die drei Musikanten setzen dort an, wo Fusionsrock sowie Jazz beginnen und mixen dann all das hinzu, was ihnen an Gedanken und Einflüssen über den Weg läuft. Ein Stück namens „Kirschgrün“ kann dann das Ergebnis sein, wobei das Wortspiel synonym für die instrumentale Finesse stehen darf. Ein anderes, vom Cellisten komponiert, nennt er „Humbold-Kalmar“ und lächelt bei der Ansage. Meine Ohren erkennen Strukturen, die ich von der Gruppe Bayon, aber auch vom Swing kenne, die sich mit rhythmischen Elementen aus Blues und Jazz zu einem neuen Ganzen vermengen. Dazwischen jede Menge solistischer Freiheiten für jeden Instrumentalisten. Da macht es einfach nur Spaß, in der ersten Reihe zu sitzen, dem musikalischen Handwerk zuzusehen und den Klängen und Melodien zu lauschen. Einfach wundervoll!

Ihre eigenen Kompositionen ergänzen DuckTapeTicket an diesem Abend mit „On A Clear Day“, einem Song, der in den frühen 1970er Jahren ein Erfolg für Barbra Streisand war. Auch diese alte Nummer muss es sich gefallen lassen, verspielt neu zusammengesetzt zu werden, wobei jeder der drei Musiker sich solistisch in den entstehenden Freiräumen präsentieren darf. Das klingt wirklich beeindruckend und manchmal meine ich sogar, aus den Soli so etwas wie Gypsy-Klänge heraushören zu können. Das Spektrum ist breit und das Spiel der drei Instrumentalisten ideenreich. Aus all dem Gehörten picke ich mir ein Stück mit einem Hauch von Balkan-Folklore als meinen Favoriten heraus, das nach einer Reise durch den Balkan entstand. „Randunika“ (Die Schwalbe) klingt zauberhaft. Ich kann tatsächlich all das Zwitschern der Vögel im Spiel erkennen und staune, wie die Bögen mal mit Eleganz und dann wieder grob kratzend über die Saiten, ja sogar über den Geigenkörper gleiten, um Schwingungen und Klänge zu erzeugen, die man von Violine, Viola oder Cello „normalerweise“ nicht erwarten würde. In diesen Momenten wird mein Erlebnishorizont wieder um Einiges nach hinten verschoben, fallen Grenzen und schließen sich Schubladen (für immer).

Während der letzte Ton im Kircheninnern verhallt, kommt staunende Stille auf, aber dann braust der Beifall. Die Musiker von DuckTapeTicket verschwinden hinter einem Vorsprung und dann scheint das Konzert beendet. Doch irgendwer im Publikum will das so noch nicht hinnehmen. Zögernd beginnt er wieder zu klatschen und plötzlich sind wir alle dabei, um eine Zugabe von Anna-Sophie Becker (Viola), von Zuzana Leharova (Violine) als Gast und Veit Steinmann (Cello) zu erbitten. Denen ist die Freude in ihren Gesichtern gut abzulesen, als sie wieder vor uns stehen, um uns noch „Apreslude“ zu schenken.

Noch einmal Klänge zwischen allen Kategorien und Schubladen, nirgendwo wirklich zu verankern und dennoch irgendwie wohlbekannt, dennoch eine neue Entdeckung. Mir ist, als hätte ein frischer Wind durch die Windungen meiner Gehirnzellen geblasen, den Blick und das Gehör wieder neu justiert. Als mich draußen auch die Abendsonne empfängt, bin ich wieder etwas leichter und beswingter, hat der Tag einen versöhnlichen Ausklang gefunden. Der weite Blick vom Huy, über Halberstadt in der Senke, bis zum Harz ganz weit hinten, öffnet dann noch die letzten verschlossenen Poren. Ich atme wieder frei (und wer die Bedeutung der kleinen Ente ergründen will, sollte selbst zu den „EntenMusikanten“ fahren und sie fragen). Danke DuckTapeTicket!

Angefügte Bilder:
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www.mein-lebensgefuehl-rockmusik.de
zuletzt bearbeitet 11.09.2017 19:26 | nach oben springen

#2

RE: DuckTapeTicket live in der Kirche der Huysburg

in Konzertberichte 2019 und älter 12.09.2017 05:23
von Kundi | 3.250 Beiträge | 7335 Punkte

Das kann ich sehr gut nachvollziehen, das Entschleunigen im Sakralbau und dann noch mit ungewöhnlicher Musik.
So eine Auszeit tut der Seele gut. Ich sitze auch von Zeit zu Zeit für mich ein paar Minuten in einer Kirche, denke nach und schöpfe neue Kraft.
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Danke für Deine Eindrücke, lieber Hartmut.

Gruß Kundi


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