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DIKANDA - Weltmusik aus Polen - live in der Festung Mark

in Konzertberichte 2019 und älter 14.03.2016 19:15
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Dikanda – ein polnischer Wirbelwind bei „Freie Klänge“ (13.03.2016)

Heute war ein Wahlsonntag. Das Volk der Frühaufsteher im Anhaltinischen hat gewählt, genauer gesagt, etwas mehr als jeder Zweite. Die andere knappe Hälfte des Volkes wollte der Demokratie keinen Glauben schenken. Das hat etwas mit Erfahrungen und Frustrationen zu tun, doch das will unsere Machtelite nicht wissen. Noch nicht! Ich bin einer von den Ankreuzern und fahre ruhigen Gewissens nach Magdeburg, wo sich die Parteien feiern, sagt der im Radio. Man feiert in der Festung Mark. Dort laufe ich an den Fenstern vorüber, hinter denen sie sich schon zuprosten. Im Gewölbe der Festung wird heute eine Band aus Polen ein Konzert geben. Unser Nachbarvolk hat gerade auch einiges durchzustehen. Vielleicht kann ich heute Abend ein wenig Solidarnosc zeigen. Ich möchte eine Band aus Polen hören, auf die ich gespannt bin.

Der Saxophonist Warnfried Altmann organisiert diese Konzertreihe und hatte mich darauf hingewiesen. Er weiß, dass ich nicht stur an Rockmusik gefesselt und noch immer neugierig bin. Er wiederum ist nicht nur ein exzellenter Musiker, sondern auch Förderer und Grenzgänger mit einer klaren Botschaft: Die Musik ist eine universelle Sprache des Herzens und der Seele. Sie verbindet Menschen, gleich welcher Hautfarbe und Nationalität. Menschen, die bei uns Zuflucht, Schutz und Hilfe suchen, ganz besonders. Auch das ist die Botschaft seiner Konzertreihe „Freie Klänge“. Auf der Bühne heute Abend: DIKANDA aus Polen.

Das Gewölbe ist riesig und durch hohe Bögen geteilt. Die Wände und Decken aus roten Ziegeln strahlen gemütliche Wärme aus. Wer möchte, findet einen Sitzplatz, in den Seitenräumen warten einige Stehtische auf Gäste. Dass man hier auch tanzen kann, macht den Reiz dieses ungewöhnlichen Ortes aus. Doch erst einmal liegen Spannung und Neugier in der Luft, bis die sechs Musiker von DIKANDA die Bühne betreten.

Ein dumpfes Brummen ist zu hören, das vom Akkordeon kommt. In diesen Klang hinein mischt sich eine Trompete, ebenfalls tief und beinahe unwirklich. Dezent beginnen nun Bass und ein Cajon das Grummeln anzutreiben und plötzlich groovt und schwingt es im Raum. Eine brodelnder Mixtur aus vielen ethnischen Zutaten, die sofort in den Bauch und die Beine gehen. Innerhalb nur weniger Augenblicke schlägt bei mir das Gefühlsbarometer weit nach oben aus. Ich bin hingerissen, eingefangen von Latin-Rhythmik und dem Puls afrikanischer Trommeln, der Leidenschaft jüdischer Melodik, vorgetragen von zwei elektrisierenden weiblichen Stimmen, die den Balkan einfach mal so melodisch in den Orient verlegen. Wie abgefahren ist das denn!?

Diese Musik ist ein feines Gespinst ganz unterschiedlicher Facetten, die einem Kessel brodelnder Zutaten zu entrinnen scheinen. Gerade habe ich mich daran gewöhnt, dem Chorgesang vom Balkan zu lauschen, da fühle ich mich plötzlich nach Kasachstan versetzt, mitten in die wilden Tanzbewegungen der beiden Vollblutweiber auf der Bühne hinein. Das ist die pure Lebenslust einer uralten Kultur, die sich in moderne Pop-Klänge drängt und sie wieder interessant und vielfältig macht. Inzwischen sagt man Weltmusik dazu, weil irgendein Stempel her muss, doch eigentlich ist das Brachialfolk in aller Vielfalt und Schönheit, wie man ihn auch bei Ikonen wie Mari Boine erleben kann, nur eben anders.

Es geht aber auch total romantisch und verträumt. In einem der Lieder geht es um ein „Mädchen auf der Bank“, das an einem warmen Sommertag von der großen Liebe träumt. Da nehmen sich die Instrumente weit zurück und die Damenstimmen von ANIA WITCZAK, die am Akkordeon, und KATARZYNA BOGUSZ verzaubern mit hinreißenden Modulationen, als würde eine einzige Stimme mehrstimmig zu hören sein. Es ist die blanke Perfektion, aber unheimlich stimmig und einfühlsam. In einem anderen Lied singen sie vom Zauber der „Schönsten Augen“ und dem Feuer, das im Herzen brennt und in einem weiteren vom „Mädchen mit dem schönen Gesicht“. Obwohl es „typisch polnisch“ klingt, ich dabei Grechuta & Anawa im Hinterkopf habe, versetzt mich das Stück emotional in den Orient, zumal PIOTR REJDAK mit der Gitarre ein Solo zaubert, bei dem er den Klang einer Sitar imitiert. Letztlich entfacht der polnische Wirbelwind ein Rhythmusfeuerwerk, das die alten Mauern erschaudern lässt. Es passt einfach alles!

Mir kommt es vor, als würde diese Musik alles in sich aufsaugen, was südöstlich von uns beheimatet ist. Eine Musik voller Leidenschaft, sinnlicher Emotionen und lebendiger Leidenschaften. All das, was ich ein wenig vermisse, wenn mir die deutsche Volkstümelei über den Weg läuft, das finde ich bei DIKANDA. Von der Begeisterung der sechs Profis kann man sich anstecken und mitreißen lassen, ohne ein einziges Wort verstehen zu müssen. Weltmusik eben, eine universelle Sprache, die Herzen verbinden kann und will. Da muss man schon ziemlich verklemmt und verhärtet sein, um sich der Sprache der Liebe zu verschließen. Die Frontfrau ANIA WITCZAK geht ganz offenherzig auf uns zu, ihre Partnerin KATARZYNA schmeichelt mit ihrem Charme und einer Stimme, die aus den Schluchten der Hohen Tatra zu kommen scheint. Im Gespann mit der Trompete von SZYMON BOBROWSKI entsteht ein Soundgebräu, das sehr atmosphärisch die Ohren betört und dann sich wieder in explosive Soli ausweitet, die sich wie ein Rausch anfühlen. Ich bin schlichtweg begeistert, so wie damals, als ich das erste Mal Mari Boine live erleben durfte.

In einem afrikanischen Dialekt steht DIKANDA für Familie, für Freude am Gesang, Leidenschaft und jede Menge Emotionen sowie pure Energie. Die Band aus dem benachbarten Polen ist ein Powerteam, dessen Faszination man sich nicht zu entziehen ermag. Die Musik fühlt sich an wie aus einem Schmelztiegel, in den man alle Zutaten gab, um daraus etwas kraftvoll Eigenes zu schöpfen. Wir erleben lange rhythmische Passagen, über denen sich das Spiel der Trompete in freien Improvisationen entfaltet, die Gitarre wilde Soli aus ihren Saiten zaubert und DANIEL KACZMARCZYK wie wild dazu Cajon und Trommel bearbeitet. Beide Damenstimmen geben diesem Instrumentalfeuerwerk Glanz, Charisma und den besondere Schuss Esprit. Dann wieder gewinnt fast Stille die Oberhand. Die Musiker setzen sich auf den Bühnenboden und lauschen dem Gitarristen bei einem filigranen Solo, dessen dichte Atmosphäre mich entfernt an manche heiße Momente im Dreiklang von Paco de Lucia, Al Di Meola und John McLaughling’s „Friday Night In San Francisco“ erinnert. Einfach großartig, so etwas hätte ich hier nicht erwartet.

Ich bin zwei Stunden gefangen im reichen Zauber der Klänge und Rhythmen, in der außergewöhnlichen Atmosphäre der Musik und des Ortes gleichermaßen. Ich lasse mich fallen und genieße es, eine Band im kleinen Rahmen zu erleben, die man ansonsten in den Hallen und bei Festivals mit tausenden Besuchern erlebt. Manchmal muss man eben die Hand annehmen, die einem das Glück reicht, und bereit sein, sich auf Ungewöhnliches einzulassen, um selbst bereichert werden zu können. Auch von anderen Menschen, die bei uns, zeitweilig oder länger, auf Hilfe und Unterstützung hoffen, von denen wir aber auch lernen können, wenn wir mutig genug sind, uns einzulassen.

Nach dem tosenden Beifall eines überaus sachkundigen Publikums erleben wir noch die Faszination einer uralten polnischen Weise. „Hanka (mit den blauen Augen)“, sagt man uns, wurde von den alten Weibern ohne Zähne in der Kirche gesungen. In dem „Omalied“, so sagt uns ANIA, geht es darum, seine innere Ruhe zu bewahren, egal in welcher Situation. Wenn nicht, müsse man weinen und die Tränen würden zum Meer fließen. Sie würden uns das Lied in einer Version für junge Frauen mit Zähnen singen – und dann wird aus dem polnischen Wirbelwind ein Orkan, dessen Vokalakrobatik mich nur noch staunen lässt. Noch einmal tobt die musikalische Urgewalt verschiedener ethnischer Stile, ehe sich der verbliebene Rest als a-capella-Dreiklang von uns verabschiedet.

Ich sage seit langer Zeit wieder einmal „Dziękuję!” und sehe in die Gesichter freundlicher Menschen, die mir eine neue CD signieren. Auf der Fahrt über die nächtliche Piste nach Hause höre ich die Neuheiten, die einen, der nicht abgeschottet sein Leben lebt, nicht mehr verwundern können. Das einzige, das mich wundert, ist die Arroganz, mit der sich die Politik das Geschehen schon wieder schön redet: Dobranoc!

Angefügte Bilder:
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zuletzt bearbeitet 14.03.2016 19:16 | nach oben springen


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